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«Wir müssen Gas geben» NZZ Artikel
Mit dem Schuleintritt kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu einem grösseren Problem werden. Wirkliche Ganztagesschulen sind in der Schweiz nach wie vor selten. Das liegt hauptsächlich an der Schultradition: Schulen sind hierzulande keine Betreuungsinstitutionen, und Lehrer wollen keinen «Hütedienst» machen. Doch nun dreht der Wind.
Autor: Michael Schoenenberger, NZZ
Wer das Nein zum Familienartikel als Absage des Stimmvolks an eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf liest, liegt mit Sicherheit falsch. Grund für die Ablehnung dürfte viel eher ein föderalistischer Reflex gewesen sein: Der Bund soll nicht in kantonale und kommunale Angelegenheiten dreinreden, zumal eine Bundesgesetzgebung mit direkten Kosten für die Kantone verbunden gewesen wäre. Dass allerdings die bessere Vereinbarkeit unter den Nägeln brennt, zeigt nicht nur das Volksmehr zum Familienartikel, sondern manifestiert sich in zahlreichen politischen Vorstössen in Kantonen.
Während es an den meisten Orten genügend – und bezahlbare – Krippenplätze gibt, wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit dem Schuleintritt zum grösseren Problem. Denn Tagesstrukturen, also etwa Mittagstische und Betreuungsmöglichkeiten nach der Schule, sind vielerorts Mangelware. Hier will jetzt der seit Januar amtierende Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK), Christian Amsler, Gegensteuer geben: «Ich bin ein grosser Anhänger von Tagesstrukturen, die an die Volksschule gekoppelt sind. Und zwar bedarfsgerecht und nicht flächendeckend. In diesem Land müssen wir jetzt Gas geben.»
Die Gretchenfrage ist, ob für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Systemwechsel nötig ist. Darunter ist im Sinne einer Ganztagesschule ein neues Schulmodell zu verstehen, mit einem pädagogischen Gesamtkonzept. Oder ob der Weg, wie er nun beispielsweise im Kanton Zürich eingeschlagen worden ist, richtig ist. Hier haben Gemeinden – abhängig vom Bedarf (der meist schwierig zu eruieren ist) und kostenpflichtig – für Angebote zu sorgen. Der Nachteil dieses an vielen Orten favorisierten, weil auf der Freiwilligkeit basierenden Konzepts ist, dass die Betreuung schnell zu einem Flickenteppich wird. Für Kinder kann das Hin und Her zwischen Schule, Mittagstisch und Hort belastend sein. Die Vorteile einer Ganztagesschule hinsichtlich besserer Lernerfolge und besserer sozialer Integration bleiben ungenutzt.
Amsler plädiert nun für einen Mittelweg. Er möchte möglichst nah an eine Ganztagesschule kommen, ohne aber einen Zwang zur Nutzung des Angebots zu schaffen. Verschiedene Familienformen müssten in einer liberalen Gesellschaft Platz haben, sagt der freisinnige Erziehungsdirektor des Kantons Schaffhausen. «Wir müssen bei den Schulen einen Gesinnungswandel hinkriegen und die Lehrkräfte von den enormen Chancen von Ganztagesbetrieben überzeugen», sagt Amsler. Von 7 Uhr morgens bis 18 Uhr abends müsse eine Abdeckung gewährleistet sein.
Amsler will in der Erziehungsdirektorenkonferenz Lösungen eruieren, insbesondere auch die interkommunale Kooperation thematisieren. Denn die schwierige bis unmögliche Finanzierung über Gemeindegrenzen hinweg verunmöglicht häufig Projekte für Ganztagesschulen. Amsler wünscht sich aber auch mehr Engagement der Lehrkräfte. «Der Lehrerverband dürfte in diesem Thema einen Zacken zulegen», sagt er – und meint damit auch das Selbstverständnis der Lehrerschaft, die unterrichten, nicht aber Betreuungsaufgaben oder einen «Hütedienst» übernehmen will.
Breite politische Unterstützung für Tagesschulen
msc. Die Forderung nach Tagesschulen und Tagesstrukturen ist fast zum Gemeingut der Schweizer Parteien geworden, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung. Am weitesten geht die SP: Sie will, dass das Standardmodell für die öffentliche Schule die Tagesschule ist. Die Grünen plädieren, wie auch die CVP, für Tagesstrukturen, die freiwillig von den Eltern genutzt werden können. Die BDP macht sich für eine «national einheitliche Struktur von Tagesschulen» stark und möchte die Errichtung von Tagesschulen mit Fördergeldern des Bundes unterstützen. Weit geht auch die FDP. Laut der Präsidentin der FDP-Frauen, Carmen Walker Späh, wollen die Freisinnigen einen Systemwechsel hin zu Ganztagesschulen. Die Organisation solle den Kantonen und Gemeinden überlassen werden, wobei bestehende Strukturen genutzt werden könnten. Der Besuch der Ganztagesschule soll freiwillig und kostenpflichtig sein. Die SVP will es ganz den Gemeinden überlassen. Verschiedene Modelle nebeneinander seien denkbar, sagt die stellvertretende Generalsekretärin Silvia Bär. Eine nationale oder interkantonale Vorgabe für eine umfassende Tagesschule lehnt die SVP ab.
Beim Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer macht man sich vor allem Sorgen um die zunehmende Zahl jener Kinder, die zwischen Schulzeiten oder nach der Schule nicht betreut sind. «Das ist der Hauptgrund, warum wir für Tagesschulen sind», sagt Präsident Beat W. Zemp und weist auf notwendige Investitionen hin. Das vorhandene Personal an den Schulen könne nicht alle zusätzlichen Aufgaben übernehmen.