Aktuelles / Notizen

23.03.2015

Interview Christian Amsler zum Lehrplan 21


im BEOBACHTER 6/2015

Interview zum Download [PDF]

“Der Lehrplan 21 ist keine Reform” - "Die Gegner tun so, als ob das eine Revolution wäre. Stimmt nicht"

Christian Amsler(*), Schirmherr des Lehrplan 21, über die Zukunft des Projekts und die Schule der Zukunft.

Herr Amsler, Gegner des Lehrplans 21 sagen, das Werk sei kein neuer Lehrplan, sondern eine Fundamentalreform.  

Ich würde nie in Anspruch nehmen, dass der Lehrplan 21 die Deutschschweizer Bildungslandschaft umpflügt. Aber er ist das bisher grösste gemeinsame Bildungsprojekt der 21 deutschsprachigen Kantone. Darauf bin ich sehr stolz. 

Lehrer befürchten, dass sie weniger Spielraum haben und sich an viel mehr Vorgaben halten müssen.

Der neue Lehrplan soll eine Richtschnur sein, ein Kompass, der die Richtung vorgibt. Sonnenklar ist, dass der Unterricht nach wie vor primär von der Lehrperson geprägt wird. Ich bin überzeugt, dass der Lehrer oder die Lehrerin 90 Prozent des Unterrichts ausmacht, abgesehen davon, dass sie eine wichtige Vorbildfunktion haben. Eigentlich freut es mich, dass der neue Lehrplan so bewegt und zu diskutieren gibt. Die Gegner tun so, als bedeute er eine Revolution. Das stimmt nicht. 

Die Vorwürfe sind happig: vermessbare Schüler, Gleichmacherei, Neoliberalismus.

Diese Pauschalbegriffe interessieren mich nicht, und die damit verbundenen Vorwürfe haben mit dem Lehrplan 21 nichts zu tun. Ich möchte die bestmögliche Schule, wo unsere Kinder im Fokus stehen und das Beste bekommen. Wenn wir dazu noch weiterhin an der Spitze des PISA-Rankings sind, soll mir das recht sein. 

Gab es denn überhaupt Handlungsbedarf für diese Reform?

Viele Kantone hatten veraltete Lehrpläne und der Aufwand wäre viel grösser gewesen, wenn jeder Kanton sich da separat darum gekümmert hätte. Hinzu kam die Abstimmung über den Bildungsartikel, bei der das Stimmvolk einer Harmonisierung der Schule und damit der Lehrpläne mit grossem Mehr zustimmte. Da war es nur logisch, dass man sich zusammensetzt. Das ist doch gut schweizerisch! 

Das macht bestimmt Sinn, aber das Werk ist mit 470 Seiten doch überladen.

Die heutigen Lehrpläne der Kantone haben einen ähnlichen Umfang. 

Muss ein Kanton, der den Lehrplan 21 ablehnt, dann auch aus dem HarmoS-Konkordat austreten?

Nein, auch nicht HarmoS Kantone sind beim Lehrplan 21 mit an Bord! Ich würde das aber persönlich sehr bedauern, weil ich es schlecht finde, wenn Kantone da ausscheren. Ausserdem riskiert man so die kantonale Bildungshoheit, weil Bundesbern dann stärker eingreifen und regulieren wird. Auch finanzpolitisch wäre es unklug, weil der betreffende Kanton dann ja wegen der Vorgaben der Bildungsverfassung trotzdem seinen Lehrplan anpassen muss. 

Konkret: Muss so ein Kanton dann bei HarmoS austreten?

Nein. Jeder Kanton kann selber über den HarmoS-Beitritt oder Austritt bestimmen. Wenn jemand beim Lehrplan 21 ausscheidet, liegt es nicht an mir zu entscheiden, ob dass dann noch mit den HarmoS-Vorgaben und dem Harmonisierungsziel der Bundesverfassung kompatibel ist. Der Bund würde dann sicher stärker eingreifen. 

Was ändert sich für die Lehrer, wenn der Lehrplan 21 eingeführt wird?

Die Unterrichts- und Methodenfreiheit bleibt gewährt! Aber ich erwarte von Pädagoginnen und Pädagogen, dass sie sich bewegen. Es gibt ja immer wieder neue gesellschaftliche Herausforderungen in der Schule. Im Moment arbeiten viele Kantone an Weiterbildungskonzepten zur Einführung des Lehrplan21, die im Rahmen der normalen Lehrerweiterbildung umgesetzt werden. 

Gleichzeitig stehen inzwischen auch die Schulen unter Spardruck. Wie geht das zusammen?

In den meisten Kantonen sind diese Gelder in der langfristigen Finanzplanung bereits eingeplant. Aber es stimmt: Der Bildungsbereich steht leider vermehrt unter Finanzdruck. Ich glaube aber, dass man diese Frage von der Diskussion um den Lehrplan 21 lösen muss. Vielleicht müsste man auch einmal grundsätzlich über unsere hohen Schweizer Löhne reden. 

Finden Sie, dass Lehrer zu viel verdienen? Die Lehrer beklagen sich ja über vergleichsweise tiefe Löhne und zu viele Reformen. Weniger Lohn und noch eine Reform – das würde den Beruf noch unattraktiver machen.

Ich meine überhaupt nicht, dass die Lehrerlöhne zu hoch sind, sondern eher manche Löhne in der Wirtschaft. Ich finde es zum Beispiel eminent wichtig, dass eine Kindergärtnerin anständig bezahlt ist, weil sie nämlich etwas Matchentscheidendes macht für die Gesellschaft. Da gibt es Manager, die weit weniger Verantwortung tragen und viel mehr verdienen. Ich finde, unsere Lehrer sind nicht überbezahlt, aber auch nicht unterbezahlt. Abgesehen davon: Der Lehrplan 21 ist keine Bildungsreform. 

Sondern?

Einfach eine neue Form von Lehrplan. Echte Reformen haben mit Änderungen des Grundsettings zu tun. Das ist hier eindeutig nicht der Fall! 

Wenn man wie im Lehrplan 21 mit der Kompetenzorientierung Können vor Wissen stellt, ist das eine tiefgreifende Reform.

Die Kompetenzorientierung ist kein Paradigmenwechsel und auch keine Reform. Auch wenn wir den Lehrplan 21 konsequent nach Kompetenzen formuliert haben, ist klar: Es geht nichts ohne Wissen. Alle wollen kompetente Leute, die in der Lage sind, ihr Wissen anzuwenden. Sie sehen: Können vor Wissen ist mit der Kompetenzorientierung nicht gemeint! Vielmehr muss es heissen: Können auf der Basis von Wissen. 

Die Kompetenzziele sind jeweils auf Zyklen von drei Jahren hinaus definiert. Kritiker befürchten, dass dadurch die schwächeren Schüler auf der Strecke bleiben, weil die stärkeren immer weiter voraus sind.

Schüler, die die Lernziele deutlich übertreffen oder verfehlen, gibt es heute schon. 

Die möglichen Unterschiede sind geringer, weil die Lernziele immer nur auf ein Jahr definiert sind.

Wir haben die Grundansprüche so definiert, dass sie von den meisten Schülerinnen und Schüler erreicht werden können. Schüler, die man im Klassenverband nicht mitnehmen kann, können auch heute schon sonderbeschult oder lernzielbefreit werden. 

Wenn der Lehrplan 21 eingeführt wird: Wie sieht unsere Schule dann in 30 Jahren aus?

Der Lehrplan 21 sagt eigentlich nichts dazu, wie die Schule aussehen wird. Er sagt, was die Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Unsere Gesellschaft bewegt sich. Deshalb ist es umso wichtiger, dass unsere Schulen einen soliden Boden haben, gleichzeitig aber offen sind für neue Entwicklungen, unabhängig davon, ob man diese Entwicklungen gut oder schlecht findet. Wenn man heute ausschliesslich mit den Rezepten von vor 30 Jahren unterrichtet, scheitert man zwangsläufig. 

(*) Regierungsrat Christian Amsler (FDP) ist Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Schaffhausen.. Der 51jährige Politiker ist mit einer Lehrerin verheiratet, Vater von drei Kindern und präsidiert die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren Konferenz mit 21 Kantonen (D-EDK).