Aktuelles / Notizen

28.04.2014

Grosses Interview in der Berner Zeitung BZ


Montag, 28. April 2014


Die 1000 Stellungnahmen zum Deutschschweizer Lehrplan, der nun überarbeitet wird, freuen Christian Amsler. Die Kritik, man habe zu lange hinter verschlossenen Türen gearbeitet, lässt er nicht gelten. Fotos: Flurin Bertschinger/Ex-Press

"Was ein Lehrplan ist,wird gegenwärtig etwas hinaufstilisiert"

MONTAGSINTERVIEW Der Schaffhauser Christian Amsler, Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, macht gut Wetter für den Lehrplan 21. Amsler ist eine Verkäufernatur, der nebenbei auch seinen Kanton und seine Partei ins beste Licht rückt. 

Wer Schaffhausen hört, denkt zuerst an den Rheinfall und dann an Thomas Minder, den Vater der Abzockerinitiative. Habe ich etwas vergessen?

Christian Amsler: Den Munot. Das ist der Klassiker der Schulreisen. Wir leiden etwas darunter, dass  aus der Restschweiz Primarschulklassen  einmal den Rheinfall und anschliessend den Munot besuchen. Danach kommen sie nicht mehr. 

Dafür avancierte Thomas Minder   fast zum nationalen Idol. Wie sehen Sie das?

Er ist Meister darin, Themen aufzugreifen, die den Leuten unter den Nägeln brennen.   Damit polarisiert er aber auch. Thomas Minder ist eine Persönlichkeit mit Ecken und Kanten. 

Sie sind  FDP-Mitglied. Ihre Partei gilt immer noch als Wasserträgerin der Abzocker. Leiden Sie darunter?

Ja. Damit wird der FDP völlig unrecht getan. Die FDP ist eine Partei, die konstruktiv Lösungen sucht und Brücken baut.  Die FDP wird schon bei den nächsten Wahlen wieder erstarken. 

Am 9. Februar musste sie vorerst einen weiteren Rückschlag hinnehmen: In der Zuwanderungspolitik ist das Vertrauen ebenfalls dahin...

Ich bleibe aber dabei: Wir sind dringend auf eine  offene Schweiz angewiesen. Der Arbeitsmarkt wird wegen fehlender Arbeitskräften in allen Sparten Probleme haben. Ich persönlich lebe lieber in einer offenen, zukunftsgerichteten Schweiz als in einer zugebunkerten Retroschweiz mit einer Betonmauer darum herum. 

Sie befinden sich hier direkt an der Grenze zu Deutschland. Wie empfinden Sie das?

Ein offener Kontakt zu unseren deutschen Freunden ist für uns selbstverständlich.  Über 5000 deutsche Grenzgänger fahren täglich  hierher zur Arbeit. Unsere Grenze ist keine Barriere. Als sportliches Regierungspräsidenten-Projekt jogge ich derzeit in Etappen der 185 Kilometer langen Kantonsgrenze mit 1740 Grenzsteinen entlang. 

Sie bemühen sich,  Offenheit zu vermitteln. Aber die Basis kauft dies den Regierenden nicht ab. 

Ich versuche authentisch zu sein und den Dialog mit den Menschen zu pflegen. 

Auf Ihrer Website zeigen Sie offenherzig Bilder Ihrer Familie und sich selber im freizeitlichen Dreitagebart. Wollen Sie sich anbiedern?

Darum gehts überhaupt nicht. Als  Politiker ist man nicht bloss jener, der in Krawatte seine Funktion ausübt, sondern dahinter steckt der Mensch Christian Amsler. Dieser besteht längst nicht nur aus dem Bildungspolitiker. Dazu gehören zum Beispiel ganz stark meine Familie und die Freizeit. Ich habe kein Problem damit, dies bis zu einem bestimmten Grad in die Öffentlichkeit zu tragen. Das trägt mir zuweilen Kritik ein. Viele schätzen es hingegen, dass ich ein Politiker zum «aalange» bin. 

Dennoch hats Politik auf kantonaler Ebene    schwer. Im Kanton Bern ging kürzlich nicht einmal jeder Dritte wählen. Haben Sie ein Rezept dagegen?

Ich bin  ein entschiedener Verfechter der Stimmpflicht. 

Wer nicht an die Urne geht, zahlt eine Busse?

Im Kanton Schaffhausen ist das so.   Erst kürzlich haben wir die Busse von drei auf sechs Franken erhöht. 

Dann ist sie zumindest deutlich teurer als das A-Post-Porto für das Stimmcouvert...

Die Strafe ist mild, aber sie zeigt, dass wir das Thema ernst nehmen.  Die Schaffhauser haben  jeweils auch die höchsten Abstimmungsraten.  

Und die anderen werden tatsächlich alle gebüsst?

Nein. Wer seinen Stimmrechtsausweis bis drei Tage nach dem Abstimmungstag in den Briefkasten wirft, gilt als entschuldigt. 

Schaffhausen ist  im nationalen Finanzausgleich ein Geberkanton und unterstützt zum Beispiel Bern. Geht das in Ordnung?

Wir haben zehn sehr gute Jahre hinter uns.  Doch nun kämpfen wir wie andere Kantone auch mit einem strukturellen Defizit. Wir müssen sparen und bleiben trotzdem   Nettozahler. Das tut weh. Doch im Grundsatz stehen wir zur solidarischen Idee des Finanzausgleichs. 

Als Präsident der Konferenz der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren (D-EDK) sind Sie auch über die Kantonsgrenzen hinaus aktiv. Die SVP bezeichnet die 2011 gegründete Institution als Wasserkopf und möchte sie schleunigst wieder abschaffen.

 Ich finde es speziell, wenn eine wichtige politische Partei eine  von 21 Kantonen gemeinsam geschaffene, politisch legitimierte Institution so angreift. Das käme mir nicht im Traum in den Sinn. Von daher kann ich diese Forderung nicht ernst nehmen. 

Anlass  zur Breitseite war das wichtigste Projekt der D-EDK: Der Lehrplan 21 leide unter einem Demokratiedefizit, sei teuer, und obendrein kenne niemand die genauen  Kosten. Was entgegnen Sie darauf?

Der Lehrplan wurde sehr wohl  breit diskutiert.  In der Konsultation gingen über 1000 Rückmeldungen aus den Kantonen ein. Legitimiert ist der Lehrplan dadurch, dass die dafür zuständigen Gremien in den Kantonen definiert sind, sei es nun die Regierung oder ein spezieller Bildungsrat. Der Lehrplan wird nicht von irgend einer nationalen Partei gemacht. Bildung befindet sich immer noch unter der Hoheit der Kantone. 

Und der Vorwurf zu den Kosten?

Darin herrscht vollständige Transparenz. Die Kosten sind in den Finanzplänen der Kantone eingestellt und werden dort in den Budgets auch abgesegnet. 

Treffen die kolportierten sechs Millionen Franken zu?

Das weiss ich nicht auswendig. 

Mehr oder weniger?

Sicher weniger als wenn es jeder Kanton alleine machen würde. 

Einige Reaktionen auf den Lehrplan fielen heftig aus. Erstaunt Sie das?

Überhaupt nicht. Volksschule interessiert und bewegt alle. Jeder besuchte sie,  weiss, wie sie sein soll und fühlt sich dementsprechend als Bildungsspezialist.  Schlecht wäre gewesen, wenn es kein Echo gegeben hätte. Denn ein Lehrplan muss breit diskutiert werden, weil darin auch  Weltanschauungen aufeinander treffen. Mich freute die rege Beteiligung. 

Eine besonders kritische Gruppe nennt sich «Memorandum 550 gegen 550». Dahinter stecken rund 1000 Lehrer, die Sie nun treffen wollen. Weshalb erst jetzt?

Die Gruppe wuchs sukzessive rund um den Bieler Lehrer Alain Pichard. Er bringt gewisse Sachen auf einen pointierten, verständlichen Nenner. Das ist okay. Es gibt aber über 100'000 Lehrer. Darunter begrüssen sehr viele den Lehrplan. Das Gesprächsangebot kommt auch nicht zu spät. Denn unser erster Ansprechpartner ist der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, der den Lehrplan in seinen Grundzügen begrüsst. Der Lehrplan wurde übrigens von Lehrern für Lehrer geschrieben. Alle anderen Behauptungen sind falsch. 

Also kein «Bürokratiemonster»?

Wenn man die eigenen Kolleginnen und Kollegen als Bürokraten abstempelt, finde ich das  speziell. Erarbeitet wurde der Lehrplan nämlich durch Fachgremien, die zur Hälfte aus Lehrern und zur anderen Hälfte aus Fachpersonen der pädagogischen Hochschulen zusammengesetzt sind. 

Es wird befürchtet, mit dem neuen Bildungsverständnis würden in der Schweiz Schul-Rankings  Einzug erhalten.

Dieser Vorwurf wurde im Zusammenhang mit der übrigens wissenschaftlich breit abgestützten Kompetenzorientierung gemacht. Da kann ich Entwarnung geben. Die 21 Erziehungsdirektoren sind geschlossen gegen amerikanische Zustände. Der Unterricht wird sich mit dem neuen Lehrplan nicht ändern. Er ist eine logische Fortschreibung in einer Situation, in der etliche Kantone ihre eigenen Lehrpläne hätten überarbeiten müssen. Jetzt geschieht das eben miteinander. 

Gewerbekreise warnen vor einer Vernachlässigung des Wissens.

Ich bin überzeugt, dass heutige Schulabgänger mehr auf der Kiste haben als früher. Hier wird auf sehr hohem Niveau geklagt. Doch teile ich die Ansicht, dass der Bildungsrucksack  weiterhin gut gepackt werden muss. Dazu braucht es neben Anwendungs- und Auftrittskompetenzen weiterhin klassisches Wissen. Wissen ist die Grundlage für eine Kompetenz und ist darum im Lehrplan enthalten. 

Was halten Sie von der Warnung, dass 20 Prozent der Schüler  an den Minimalanforderungen scheitern werden?

Schon heute erreichen gewisse Kinder die Lernziele nicht. Dagegen gibt es  Rezepte wie bspw. eine Befreiung von den Lernzielen. Der Lehrplan ändert in dieser Hinsicht gar nichts. Die Grundanforderungen sind kompatibel mit den nationalen Bildungsstandards. Ich glaube nicht, dass künftig mehr Kinder durch die Maschen fallen werden. 

Der Berner Lehrerverband moniert, der Lehrplan 21 gleiche einem Gesetzbuch.

Was ein Lehrplan ist, wird gegenwärtig gerne etwas hinaufstilisiert. Entscheidend für den Unterrichtserfolg ist  und bleibt die Lehrperson.   Der Lehrplan dient ihr als Kompass oder Richtschnur, um die inhaltlichen Ziele zu erreichen. 

Nun ist der Plan sehr ausführlich geraten. Wo bleibt der Freiraum?

(lacht) Er wird ja jetzt  um 20 Prozent gekürzt. Nein, im Ernst: Ein Lektionenhandbuch war der Lehrplan noch nie und er wird dies auch künftig nicht sein. Den Lehrern bleiben sehr viele Möglichkeiten, um ihren Unterricht frei  zu gestalten. 

Sie sind ein Englischfan. In Bern bevorzugen wir Französisch. Ist die  anvisierte Vereinheitlichung schon wieder dahin?

Der Fremdsprachenunterricht ist ein emotionales Teilproblem der Harmonisierung. Wir stehen vor ganz intensiven Sprachendiskussionen in diesem Land. Schaffhausen hat als erster Kanton einen Vorstoss überwiesen, der nur noch eine Fremdsprache auf der Primarstufe fordert. Diese Botschaft den anderen Erziehungsdirektoren zu überbringen, fiel mir nicht leicht.  Nun müssen die Kantone bis 2015/2016  dem Bund den Nachweis erbringen,  dass sie eine Lösung finden. 

Scheitert die Harmonisierung eventuell daran?

Ich glaube nicht.  Wenn Bern an der Sprachgrenze einen anderen Weg geht als wir, habe ich übrigens Verständnis dafür.  

Kennen Sie einen Ausweg, damit am Ende nicht der Bundesrat das Szepter übernehmen muss?

Ich würde   an zwei Fremdsprachen festhalten, aber in den ersten Jahren sollen nicht Noten im Vordergrund stehen, sondern das Bad in der Sprache, der Kontakt mit dem anderen Sprach- und Kulturraum.  Als der Fremdsprachenunterricht vorverlegt wurde, versprach man eine spielerische Sprachvermittlung.  Sehr schnell wurde dann dennoch die Leistung  relevant für die Promotion. Das finde ich falsch. 

Sie wollen Druck wegnehmen?

Genau. Viele Eltern klagen, ihr Kind sei überfordert.  Die Schulen sind sowieso sprachlastiger geworden. 

Die «Schnürlischrift» steht auch auf der Abschussliste. Warum?

Die Schnürlischrift mag noch einige Fans haben. Aber alle Zeichen in der D-EDK deuten darauf hin, dass man auf die teilverbundene Basisschrift umschwenkt. 

Was wird aus der Handschrift?

Jeder und jede soll eine eigene Handschrift entwickeln können. Dafür bietet die von einem Glarner entwickelte Basisschrift eine gute Grundlage. 

Nun packen Sie also die Überarbeitung des Lehrplans an. Sie haben sich bei einem ehrgeizigen Zeitplan einiges vorgenommen. Warum diese Hektik? 

Wir haben versprochen, den  Zeitplan nur im äussersten Fall zu überziehen.  Vorgesehen ist, den Lehrplan Ende Jahr den Kantonen zur Einführung zu übergeben. Das hat auch mit finanziellen Überlegungen zu tun. Wir sind der Überzeugung, dass die Hausaufgaben termingerecht erledigt werden können. Im September wird die Steuergruppe aber noch einmal über die Bücher gehen und falls nötig mehr Zeit einräumen. 

Sie arbeiten mit dem Lehrplan 21 an der Zukunft der Schule.  Wie nahmen Sie  als Vater Ihrer drei Kinder die Schule wahr?

Die Lehrer sind matchentscheidend. Da habe ich  Unterschiedliches erlebt und da leidet man manchmal  mit, wenn es nicht so gut läuft. Aber in der Summe haben meine Kinder eine sehr schöne Schulzeit verbracht; ich selber übrigens auch.  

Interview: Christoph Aebischer 


Regierungspräsident Amsler will im «kleinen Paradies» Schaffhausen ein Politiker zum «Aalange» sein. 

CHRISTIAN AMSLER IM GESPRÄCH

Der Herrenacker ist ein etwas erhöht liegender Platz mitten im schmucken Städtchen Schaffhausen.

Der Schaffhauser Regierungspräsident Christian Amsler winkt eigenhändig zum Fenster hinaus, um den Gast zur richtigen Tür zu lotsen. Die Kaffeemaschine bedient er in seinem von etlichen Nippes und persönlichen Fotos dekorierten Büro auch grad selber. Der freisinnige Erziehungsdirektor ist ein sympathischer Vorzeigepolitiker.

Als Präsident der Konferenz der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren erprobt er diese Qualitäten nun auf nationaler Bühne.

Das Unterfangen ist in der föderalistischen Schweiz nicht zu unterschätzen: Erstmals raufen sich die 21 deutschsprachigen Kantone zusammen und koordinieren ihre Lehrpläne zu einem einzigen. Die Interessen sind mannigfaltig und klaffen weit auseinander. Amsler, früher Prorektor an der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, scheint diese Herausforderung zu behagen. Er hebt engagiert die Vorteile eines gemeinsamen Lehrplans hervor. Offenheit ist dem 50-jährigen Amsler wichtig. Seine Website pflegt er aktiver als andere Politiker. Die drei Kinder und seine Frau, selber als Lehrerin tätig, geniessen einen hohen Stellenwert – auch Amslers öffentliche Auftritte kommen nicht zu kurz. Sein persönliches ABC beginnt mit G wie Grüezi. Ohne Eigennutz tut er dies freilich nicht. Amsler verrät am Rande des geduldig absolvierten Fotoshootings, dass er dereinst in Bundesbern zu politisieren gedenkt – noch nicht gleich, aber ab der übernächsten Legislatur. Dann sässe der parteilose und durch die Abzockerinitiative populär gewordene Thomas Minder bereits acht Jahre im Ständerat. Den Sitz luchste Minder 2011 Amslers FDP ab. «Den holen wir zurück», sagt dieser nun selbstbewusst. cab