Aktuelles / Notizen
Dr. Thomas Meier, PHSH
Quelle Schaffhauser Nachrichten, Samstag, 26. April 2014
Wind in der Fremdsprachenfrage hat gedreht
Fakten und Ansichten Frühenglisch im Kanton Schaffhausen
VON THOMAS MEIER
Seit 2007 bin ich Projektleiter Englisch auf der Primarstufe. Ich arbeite im Auftrag des Schaffhauser Erziehungsdepartements. Meine Aufgabe ist eine administrative. Ich habe rund 150 Lehrpersonen geholfen, die Lehrberechtigung im Fach Englisch zu erwerben, indem ich Didaktikkurse und Sprachaufenthalte organisiert habe. Dass ich deshalb ein Experte sei, was das frühe Sprachenlernen betrifft, behaupte ich nicht – das masse ich mir keineswegs an. Ich würde lediglich von Erfahrungen sprechen, habe ich doch als Mentor von PH-Studentinnen und -Studenten seit 2008 zahlreiche Englischlektionen in der Praxis erlebt.
Nun soll das Rad wieder zurückgedreht werden. Heinz Rether, Primarlehrer in Thayngen, hat im vergangenen November im Kantonsrat eine Motion mit dem Titel «Nur eine obligatorische Fremdsprache auf der Primarstufe» eingebracht. Das Begehren wurde schliesslich in ein Postulat umgewandelt und vom Rat am 17. Februar mit 29:15 Stimmen überwiesen. Das Postulat verlangt, dass der Schaffhauser Erziehungsdirektor Christian Amsler einen Brief an die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) schreibt. Inhalt: Das Konkordat zur Schulharmonisierung (HarmoS) sei so zu ändern, dass in der Primarschule nur noch eine Fremdsprache unterrichtet werde. So weit, so gut, denn: Das ist Demokratie.
Klare Mehrheit
Die Mehrheit, die den Vorstoss Rethers unterstützt hat, ist ja auch eine erkleckliche. Diese Tatsache in Abrede zu stellen, wäre unlauter. Mit welchen Argumenten hat der Postulant seinen Vorstoss begründet? Er beruft sich auf den Dachverband des Schweizer Lehrpersonals (LCH), welcher der Ansicht sei, viele Schweizer Kinder seien mit dem Lernen einer zweiten Fremdsprache auf der Primarstufe überfordert. Des Weiteren: Mit nur zwei Wochenlektionen könne eine Fremdsprache nicht spielerisch erlernt werden. Da stellt sich die Frage: Wäre Grund A (Überforderung) hinfällig, wenn die Rahmenbedingung, auf die sich Grund B beruft (nur zwei Lektionen), angepasst würde? Immerhin ist zu konstatieren, dass bei uns Dritt- und Viertklässler pro Woche drei Englischlektionen haben (eine davon zudem in der Halbklasse). Seit ein paar Jahren haben die Schülerinnen und Schüler der 5. und der 6. Klasse auch drei Wochenlektionen Französisch. Aber wir wollen ja nicht spitzfindig sein. Ich glaube, Heinz Rether richtig zu interpretieren, wenn ich behaupte, dass seiner Ansicht nach die Kinder in der Primarschule mit zwei Fremdsprachen grundsätzlich überfordert sind. Und intensiveres Fremdsprachenlernen? Das würde wohl bedeuten, dass die Kinder in die betreffende Sprachregion gehen (Sprachbad). So etwas hat konkret noch nie jemand für Primarschüler gefordert und wäre vermutlich auch nicht billig. Konsequenterweise müsste man also eigentlich beide Fremdsprachen auf die Oberstufe verbannen.
Promotionswirksam gleich lustlos?
Es sind aber andere Dinge, die mich irritieren. Da ist zunächst einmal der Vorwurf an die Adresse der kantonalen Behörde, man habe einst versprochen, Englisch werde auf der Primarstufe spielerisch unterrichtet. Sollte dies jemand versprochen haben, wäre das Unsinn. Für die Art des Unterrichts ist einzig und allein die Lehrperson verantwortlich. Einen spielerischen Unterricht hat auch niemand prophezeit. Es gibt nur eine einzige Verlautbarung (2006 von Seiten der damaligen Regierung), die besagt, der Fremdsprachenerwerb geschehe bei Kindern generell «auf eine mehr oder weniger spielerische Art und Weise» – der Erwerb der Sprache, nicht der Unterricht. Die Klage über einen wenig spielerischen Unterricht zielt auf die Promotionsregelung ab. Die Schlussfolgerung: Wenn ein Fach promotionsrelevant ist, muss der Unterricht zwangsläufig lustlos sein. Demzufolge sind Deutsch, Französisch, Mathematik, Mensch und Mitwelt, die für den Übertritt in die Sekundarstufe eins zählen, per se kopflastig und rigide. Die «Schuldigen» für diese Misere sind auch schnell ausgemacht: Es sind natürlich die «Bildungsturbos» im Erziehungsdepartement. In Tat und Wahrheit hat der Erziehungsrat, also ein vom Kantonsrat gewähltes Gremium, die Promotionsbestimmungen formuliert. Französisch war schon vor der Einführung des Fachs Englisch für die Promotion massgebend. Nun zählen die beiden Fremdsprachen ab der fünften Klasse je hälftig. Für den Zuweisungsentscheid beim Übertritt in die Sekundarstufe eins ist Englisch indes nicht massgebend. Auch in der Probezeit der Sekundarschule ist Englisch nicht promotionswirksam. So viel zu den Fakten.
Zustimmende Voten
Irritierend ist auch, wie souverän es der Kantonsrat schafft, sich von seinen eigenen früheren Voten zu distanzieren. Immerhin wurde die Motion von Hannes Germann (SVP), mit der die Einführung des Fachs Englisch gefordert wurde, vom Kantonsrat 2001 mit 50:16 Stimmen überwiesen. Im November 2005 lehnte der gleiche Rat die Volksinitiative ab, die «Nur eine Fremdsprache an der Primarschule» anstrebte. Die Initiative wurde schliesslich auch vom Volk, wenn auch nur knapp, verworfen. Fazit: Das ist Demokratie. Das Erziehungsdepartement beziehungsweise der Erziehungsrat haben den Auftrag, der ihnen vom Kantonsrat beziehungsweise vom Volk auferlegt wurde, in der Folge gewissenhaft ausgeführt. Die Stundentafel wurde festgelegt, die Lehrberechtigung definiert und die Lehrmittel bestimmt. Letztere wurden im Übrigen nicht «ausgewechselt», wie Heinz Rether an der Kantonsratsdebatte im vergangenen Februar erklärte. Im Gegenteil: Sie wurden von der zuständigen Lehrmittelkommission, in der überwiegend Lehrpersonen einsitzen, evaluiert und dem Erziehungsrat vorgeschlagen. Auch hier: Demokratie. Bleibt die Überforderung der Schülerinnen und Schüler. Das ist so: Es gibt Kinder, die mit den zwei Fremdsprachen nicht zurechtkommen. Ich war kürzlich in einer Primarklasse, wo ich mir gewünscht hätte, die Schüler könnten sich auf die Schulsprache – Deutsch – konzentrieren. Das Problem, dass sich unsere Kinder auf ihrem Bildungsweg mit sehr vielen Dingen auseinandersetzen müssen, soll nicht kleingeredet werden. Die Schule von heute ist oft unruhig, weil auch die Gesellschaft oft unruhig ist. Die Gesellschaft drängt mit Macht in die Schule. Interessenvertreterinnen und -vertreter erkennen, wie wichtig es ist, dass ihr Gedankengut in der Schule gepflegt wird. Es wäre deshalb ein Trugschluss zu glauben, mit der Verbannung einer Fremdsprache werde alles wieder wie früher. Die Ablehnung von schulischen Neuerungen hat, wir wissen es, Konjunktur. Der Wind hat in den letzten zehn Jahren merklich gedreht.
Die Schüler haben Spass
Noch ein Letztes: Heutzutage wird alles evaluiert, so auch die Einführung des Fachs Englisch auf der Primarstufe. Knapp zweieinhalb Jahre nach dessen Einführung, in der Zeit zwischen November 2010 und März 2011, wurden unter der Leitung eines Forscherteams der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) alle – alle! – Schaffhauser Fünftklässler (460) und deren Lehrpersonen zum Englisch befragt. Und was ist dabei herausgekommen? 76 Prozent der Kinder gaben an, der Englischunterricht mache ihnen Spass. Gar 86 Prozent gaben an, dass sie im Englischunterricht gut mitkommen (ganz oder mehrheitlich). 73 Prozent der Lernenden finden das Lehrmittel ganz oder mehrheitlich gut. Die Lehrpersonen waren insgesamt weniger begeistert. 79 Prozent gaben aber an, der Englischunterricht bereite ihnen Spass. Beim Lehrmittel sind die Meinungen ziemlich genau hälftig geteilt. Der Stoffumfang (96 Prozent Ablehnung) und die Gebrauchsfertigkeit des Lehrmittels werden sehr negativ beurteilt. In den Leistungstests schnitten die Schaffhauser Kinder bemerkenswert gut ab. Die durchschnittlich erreichten Punktzahlen im Hör- und im Lese- verstehen sind höher als der Durchschnitt aller Beteiligten. Der Mittelwert liegt im Hörverstehen im Kan- ton Schaffhausen bei 551 Punkten (zum Vergleich: 542 Punkte bei allen Getesteten) und im Leseverstehen bei 547 Punkte (zum Vergleich: 534 Punkten bei allen Getesteten). Das im Rahmen des Schweizerischen Nationalfonds stehende Forschungsprojekt der FHNW wurde in fünf Kantonen und im Fürstentum Liechtenstein durchgeführt.
Eine Million Franken
Quintessenz: Die Klarheit des Votums im Kantonsrat am 17. Februar lässt keine Zweifel daran, dass eine der beiden Fremdsprachen aus der Primarschule verbannt werden soll. Es macht den Anschein, als werde dies Englisch sein. Vermutlich wird dieser Entscheid genau zu dem Zeitpunkt gefällt werden, wenn die ersten Schülerinnen und Schüler, welche im August 2008 in der 3. Primarklasse mit Englisch begonnen haben, aus der Schule kommen, nämlich im Sommer 2015. Die Einführung von Englisch auf der Primarstufe hat den Kanton rund eine Million Franken gekostet. Demokratie bedeutet nicht nur die Herrschaft des Volkes, sondern auch dass dessen Vertreter dessen Geld ausgeben.
Thomas Meier ist Dozent an der Pädagogische Hochschule Schaffhausen und Leiter Berufseinführung und Projektleiter Englisch
Demzufolge sind Deutsch, Französisch und Mathematik, die für den Übertritt in die Sek 1 zählen, per se kopflastig und rigide
Die Schule von heute ist oft unruhig, weil auch die Gesellschaft oft unruhig ist. Diese drängt mit Macht in die Schule