Aktuelles / Notizen
Interview in 20min mit RR Christian Amsler
Sie haben selber drei Kinder im Teenageralter. Wie haben Sie und ihre Frau die Kinderbetreuung gemanaged?
Wir hatten die klassische Rollenverteilung. Als die Kinder kamen hat meine Frau ihre Stelle als Lehrerin stark reduziert. Ich meinerseits hätte aber sehr gerne Jobsharing betrieben. Die Realität sah aber so aus, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schwer umzusetzen war und noch immer ist. Die Schule beginnt um acht Uhr morgens. Um diese Zeit müssen viele Arbeitnehmer bereits im Büro sein. Zudem haben die wenigsten Schulen einen Mittagstisch. Um vier Uhr nachmittags ist Schulschluss – aber noch lange nicht Arbeitsende. Dieser schulische Alltag ist nicht kompatibel mit der Realität vieler Familien. Denn es gibt immer mehr berufstätige Elternpaare oder alleinerziehende Mütter.
Das wollen Sie jetzt mittels Ganztagesschulen ändern.
Genau. Aber nicht flächendeckend, sondern bedarfsgerecht! Berufstätige Eltern noch nicht schulpflichtiger Kinder können mittlerweile auf Krippen zurückgreifen. Werden die Kinder aber eingeschult stehen die Eltern vor einem riesigen Problem. Es braucht Ganztagesschulen in sinnvoller Distanz, in denen Kinder von morgens um sieben bis abends um sechs nicht nur unterrichtet, sondern auch ganzheitlich betreut werden. Bereits jetzt gibt es immer mehr Schlüsselkinder, die über den Mittag oder nach der Schule auf der Strasse herumhängen oder zu Hause unbeaufsichtigt Medien konsumieren. Ausserdem drohen auch volkswirtschaftliche Schäden.
Inwiefern?
Bis 2030 fehlen uns hunderttausende Arbeitskräfte. Entweder importieren wir diese aus dem Ausland, was den demographischen Druck im Land aber erhöhen würde und politisch nur sehr schwer mehrheitsfähig ist. Oder wir erhöhen das Rentenalter, was aufgrund der vielen Frühpensionierungen nicht allzu effizient sein dürfte. Die dritte Lösung wäre Mütter, die nicht mehr arbeiten, wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Viele Frauen sind heute top ausgebildet. Das ist wirtschaftlich brachliegendes Potenzial. Wir brauchen gutausgebildete Frauen, die in der Wirtschaft tätig sind. Dafür brauchen wir Ganztagesschulen. Für jeden Franken, den der Staat in ausserschulische Betreuungen steckt, bekommt er drei Franken zurück. Ausserdem sind in der Schweiz zahlreiche internationale Firmen mit Angestellten aus aller Welt angesiedelt. Diese reiben sich verwundert die Augen, wenn Sie von unserem Schulsystem erfahren. Damit der Wirtschaftsplatz Schweiz attraktiv bleibt, braucht es Tagesschulen.
Bereits 6-Jährige sollen zwölf Stunden in der Schule verbringen. Was sollen die Kinder so lange machen?
Gerade Kinder sind in den frühen Morgenstunden extrem aktiv und können vor dem Schulbeginn gemeinsam mit dem Betreuungspersonal basteln oder spielen. Den Mittag verbringen die Kinder gemeinsam, was ihre sozialen Kompetenzen fördert. Jüngere Kinder lernen von ihren älteren Kollegen, Ausländerkinder können sich leichter integrieren und erlernen die Sprache. Nach Schulschluss können Kinder betreut Hausaufgaben machen. Ausserdem sollte den Kindern innerhalb der Schule verschiedene Freizeitangebote zur Verfügung stehen: Sport, Musik oder Begabtenförderungskurse. Das birgt auch riesige Chancen für Vereine, die sich über zu wenig Mitglieder beklagen. Es soll keine strikte Trennung mehr geben zwischen Unterricht und Freizeit. Das muss auch der Lehrerschaft bewusst werden.
Lehrer beklagen sich aber bereits jetzt über das hohes Arbeitspensum...
Ich will Lehrer nicht zum Hütedienst verknurren. Aber die Schule sollte offen für Ganztagesstrukturen sein, nicht an der strikten Trennung von Unterrichten und Betreuung festhalten und dies als pädagogische Chance betrachten. Pädagogen müssen Kinder ganzheitlich betrachten und ganz nach dem pädagogischen Prinzip Pestalozzis Kopf, Hand und Herz bei der Erziehung berücksichtigen. Betreuen sollen die Schüler neben den Lehrern Eltern oder fitte Senioren, die nicht zwingend eine pädagogische Ausbildung haben müssen.
Kritiker befürchten Ganztagesschulen nach dem DDR-Modell...
Wir sind meilenweit vom DDR-Staat entfernt. Die Ganztagesschule ist nicht von ideologischem, parteipolitischem Gedankengut getrieben, sondern eben von der Notwendigkeit unserer Gesellschaft. Man kann immer gleich überall Negativpunkte orten. Ich bin ein positiv denkender Mensch und sehe vor allem Chancen!
Wäre nicht auch das weniger ehrgeizige deutsche Modell eine Lösung, bei der Kinder von frühmorgens bis 1400 Uhr in der Schule betreut werden?
Das ist eine halbpatzige Lösung und hilft Eltern, die ganztags arbeiten gänzlich wenig. Wenn schon, müssen wir das richtig in Angriff nehmen und endlich vorwärts machen. Im Vergleich zu den skandinavischen und angelsächsischen Ländern, wie auch Frankreich, sehen wir alt aus.
Viele Eltern finden, Kinder seien zu Hause besser aufgehoben als in der Schule.
Es ist schön, wenn ein Kind zu Hause zu Mittag isst. Es ist aber ebenso bereichernd, wenn es den Mittag mit zwanzig anderen Kindern verbringt und so seine sozialen Kompetenzen entwickelt. Das Kind erleidet sicher keine psychische Schäden, nur weil es nicht bei seinen Eltern ist. Eltern, die ihre Kinder nur am Abend und an den Wochenenden sehen, können ihren Kindern genau so gute Eltern sein. Wichtig aber ist: Eltern, die ihre Kinder selber betreuen wollen, sollen das weiter dürfen. Tagesschulen sollen freiwillig sein. Eltern sollen einfach die Möglichkeit haben, das Modell zu wählen, das ihnen am besten entspricht. Die Angst, dass der Staat zum Erziehungsdienst wird, ist unbegründet.
Und wer soll die Kosten für die Ganztagesschulen tragen?
Neben dem Staat und den Kantonen sollen die Eltern einkommensabhängig dafür aufkommen. Die Kosten sollten so hoch sein, dass es sich auch lohnt zu arbeiten.
Die Hoheit über das Bildungssystem haben noch immer die Kantone. Strebt die D-EDK ein zentralistisches System an?
Wir wollen den Kantonen und Gemeinden nichts überstülpen. Es darf aber nicht sein, dass die Tagesschulidee am Föderalismus scheitert. Es braucht eine gewisse Aufweichung des Föderalismus, da einzelne Gemeinden die Kosten für Tagesschulen gar nicht selber tragen könnten.
Wie sieht ihr weiteres Engagement für Tagesschulen konkret aus?
Ich werde in Bundesbern im Bereich meiner eigenen Möglichkeiten Lobbying betreiben und bei den Parlamentariern Dampf machen. Die Parteien, Kantone und Gemeinden sollen jetzt endlich Gas geben!