Aktuelles / Notizen

17.09.2025

Albert Schweitzer in der Welt und in Schaffhausen


«Menschlich leben in unmenschlicheren Zeiten»

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Bild: Der Urwalddoktor von Lambarene, Dr. Albert Schweitzer (Bild Stiftung Albert Schweitzer Werk)

«Menschlich leben in unmenschlicheren Zeiten». Dies war der Titel eines Vortrages von Thomas Bornhauser, Dr. theol., Erwachsenenbildner und Autor, Mitglied des Stiftungsrats Albert-Schweizer-Werk am Donnerstag, 11. September, 19 Uhr in der Zwinglikirche, den ich besucht habe. 

Beim Eintreffen war dieses Zitat des berühmten Urwalddoktors eingeblendet: „Wir alle leben geistig von dem, was uns Menschen in bedeutungsvollen Stunden unseres Lebens gegeben haben.“

Albert Schweitzer war Arzt, Theologe, Organist, Christ, Bachbiograph, Mahner gegen Atomwaffen, Ethiker, Autor und vieles mehr.

Seine Ethik fusste auf den drei Schritten FORSCHEN - STAUNEN - HELFEN. Für ihn war es entscheidend, dass wir Ehrfurcht vor dem Leben haben. Die Würde und Schönheit des Lebewesen macht den Wert des Lebens aus. Das andere Leben darf nicht geschädigt werden, weil es auch leben will. Respekt und Ehrfurcht vor dem Mitgeschöpf zieht auch Helfen nach sich. Das Referat fand just am Tag 9/11 statt, 24 Jahre nach dem schlimmen Terroranschlag auf das World Trade Center und die USA. Dieses 3 - Schritt Modell kann man in jeder Lebenslage anwenden. So werden wir nicht zu Terroristen. 

Doch das andere Lebewesen in seiner Andersartigkeit anzunehmen fällt uns gar nicht so leicht. In jedem von uns ist ein gewisser Egoismus und eine Egozentrik verhaftet. Wir denken schnell in Schwarz - Weiss Dimensionen und die Konkurrenz ist ein etabliertes Element in unserem Leben. 

Hingebung - Dienen - Helfen - VORBILD sein. Vorbilder sind nicht perfekt / Nobody is perfect. Albert Schweitzer war es auch nicht. Er galt bisweilen als stur, jähzornig und aufbrausend - er hatte also durchaus auch seine Schattenseiten.

„Das gute Beispiel ist nicht nur  e i n e  Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen. Es ist die einzige.“  

Albert Schweitzers hat u.a. auch das Werk „Kulturphilosophie“ geschrieben. 

KULTUR war für ihn ein entscheidendes Mittel, um seine Ethik umzusetzen. Kultur (wie Musik, Bilder, Tanz) verbindet, stiftet Gemeinschaft und Frieden und sie harmonisiert. HARMONIE war für ihn ein wichtiger und zentraler Schlüsselbegriff.  

Auch als Arzt hat er im Chaos des Körpers Harmonie herzustellen versucht. Brüche und Störungen sollen geheilt werden, um die Harmonie wieder herzustellen. 

Albert Schweitzer war Komponist, strenger Dirigent, Regisseur aber auch Mitwirkender und hat sein lebensnahes Gesamtkunstwerk als Szenario entworfen und dann realisiert, indem er gleichsam seine Vision zur Aufführung brachte. 

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Bild: Dr. Thomas Bornhauser bei seinem Schaffhauser Referat zu Albert Schweitzers Ethik am 11.9.2025 in der Zwinglikirche (Bild Christian Amsler)

Albert Schweitzer in Schaffhausen
Albert Schweitzer, bekannt als Arzt, Musiker und Friedensnobelpreisträger, war immer wieder in Schaffhausen. Hier gab er Konzerte und war Ehrenpräsident der Internationalen Bachgesellschaft. Noch heute spürt man seinen Einfluss. 

Albert Schweitzer, der berühmte Arzt, Philosoph, Theologe und Friedensnobelpreisträger, ist den meisten vor allem als Gründer des Urwaldhospitals in Lambarene, Westafrika, bekannt. Weniger bekannt jedoch ist sein prägender Einfluss auf das kulturelle Leben in Schaffhausen, einer Stadt, mit der er zeitlebens verbunden war. Schaffhausen war kein zufälliger Ort für Schweitzers Wirken: Die Stadt verfügte bereits seit längerem über eine reiche Tradition im Bereich der Orgelmusik und eine lebendige reformierte Kirchgemeinde. Die Kirche war jeweils gestossen voll, wenn er auswendig Bachs Musik spielte, umringt von Pfarrern und Anbetern. 

Sein Engagement für den Orgelbau und seine fundierte Musikwissenschaft hinterliessen sichtbare Spuren, etwa bei der teilweisen Restaurierung der Orgel in der Kirche St. Johann. Dort galt er als sachkundiger, wenn auch «mitunter unbequemer Ratgeber», dessen Leidenschaft für die Musik und den Erhalt der Orgeln unverkennbar war. 

Pfarrhaus und Kirche prägen
Schweitzers familiärer Hintergrund beschreibt Thomas Bornhauser, Theologe und Stiftungsrat des Albert-Schweitzer-Werks, als entscheidend: «Albert Schweitzers Vater war Pfarrer. Im Milieu von Pfarrhaus und Kirche konnte seine Weltanschauung reifen.» In jungen Jahren war Schweitzer in der Theologie anerkannt und hätte an mehreren Universitäten Professuren erhalten können. Doch er entschied sich gegen eine akademische Karriere, widmete sein Leben dem Aufbau des Krankenhauses in Lambarene. Um finanzielle Mittel für dieses Vorhaben zu sammeln, ging er in Europa auf Vortrags- und Konzertreisen, äusserte sich als Spezialist für Johann Sebastian Bach und als Kenner der Orgelbau-Theorie. Dieses Wirken verschaffte ihm grosse Bekanntheit. Schlussendlich wurde ihm für seinen Einsatz gegen die Aufrüstung und für seine Ethik der «Ehrfurcht vor dem Leben» der Friedensnobelpreis verliehen. 

Musik überwindet Feindschaft
Ein eindrucksvolles Kapitel seiner Verbindung zu Schaffhausen ist die Gründung der Internationalen Bachgesellschaft im Jahr 1946, bei der Schweitzer erster Ehrenpräsident war. Die Gesellschaft entstand unmittelbar nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel, durch die Musik Johann Sebastian Bachs Menschen aus ganz Europa zu vereinen. Sie sollte ein Symbol der Versöhnung sein – ein Zeichen des Friedens über nationale Grenzen hinweg. 

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.„ (Albert Schweitzer) 

Schweitzer selbst prägte das musikalische und geistige Klima rund um das erste Schaffhauser Bachfest. Weggefährten erinnern sich an ihn als Humanisten, der sagte: «Musik hat die Kraft, Menschen zu verbinden, selbst nach Jahren bitterster Feindschaft.» Bereits zuvor, in den Jahren 1928 und 1936, hatte Schweitzer in Schaffhausen bedeutende Orgelkonzerte gegeben.

Schweitzers Urteil über die Schaffhauser Orgel war überaus lobend, und als er erfuhr, dass die Orgel ausgetauscht werden sollte, zeigte er seine Abneigung gegenüber Orgelerneuerungen, die er für Geschäftemacherei und unfair hielt. «Stellen Sie sich mit der Nilpferdpeitsche neben den Orgelbauer», soll er zu Paul Binde gesagt haben, um den Abbau des Instruments zu verhindern. 

Vor 150 Jahren wurde Albert Schweitzer geboren. Er war Theologe, Kirchenmusiker und Missionsarzt im zentralafrikanischen Lambaréné. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der deutsch-französische Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer zum gefeierten Sinnbild des «guten Deutschen». 

Ausgerechnet ein imposanter älterer Herr mit buschigem Schnurrbart, weissem Hemd, schwarzer Fliege und Tropenhelm avancierte in der jungen Bundesrepublik zum Idol einer ganzen Generation. Der Missionsarzt Albert Schweitzer (1875–1965), der in einer abgelegenen zentralafrikanischen Dschungelregion im heutigen Gabun ein Krankenhaus betrieb, war bekannter als die meisten Sportler und Filmstars. Seine ethischen und theologischen Gedanken machten den «Urwalddoktor» zum Wegbereiter der Tierschutz- und der Friedensbewegung. Vor 150 Jahren, am 14. Januar 1875, wurde der Theologe, Arzt und Friedensnobelpreisträger im Elsass geboren. 

Gegen jeglichen Nationalismus
Schweitzer wuchs als Untertan des deutschen Kaisers in Günsbach in der Nähe von Colmar auf, wurde nach 1918 französischer Staatsbürger. Eine Antwort, ob er sich mehr als Deutscher oder als Franzose fühle, blieb er zeit seines Lebens schuldig. «Ich bin ein Mann von Günsbach und ein Bürger der Welt», erklärte er auf Nachfrage. Seine Absage an jeglichen Nationalismus war einer der Gründe dafür, dass der Elsässer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen faszinierte. 

Theologe, Arzt, Musiker und Philosoph
Albert Schweitzer hatte bereits ein Studium der Theologie, Philosophie und Kirchenmusik absolviert, als er den Entschluss fasste, Notleidenden zu helfen. Deshalb studierte er zusätzlich Medizin und zog kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ins damalige Französisch-Äquatorialafrika, wo er in Lambaréné am Ogooué-Fluss das erste Krankenhaus weit und breit gründete. Die Patienten wurden dort kostenlos behandelt und mussten teilweise über hundert Kilometer weit mit dem Kanu herantransportiert werden. Ganz in der Nähe entstand mit Schweitzers Nobelpreisgeld später eine Ansiedlung für Leprakranke.

In Afrika entwickelte der Theologe sein Konzept der «Ehrfurcht vor dem Leben», in dem er forderte, allen Geschöpfen mit Hochachtung zu begegnen – nicht nur den Angehörigen verfeindeter Völker, sondern auch Tieren und Pflanzen: «Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, das uns vom Menschenstandpunkt aus als tieferstehend vorkommt.» Leben in Not zu helfen, sei die eigentliche Bestimmung des Menschen. 

Dass der deutsch-französische Tropenarzt insbesondere in Deutschland eine heute kaum noch vorstellbare Berühmtheit erlangte, hatte auch viel damit zu tun, dass es nach dem Ende der NS-Diktatur nur wenige Persönlichkeiten gab, auf die sich viele Deutsche als Vorbilder einigen konnten. So wurde Schweitzer zum umjubelten «guten Deutschen», nach dem bereits zu Lebzeiten Strassen benannt wurden. 

Friedensnobelpreis 1954
Als er nach dem Zweiten Weltkrieg schon weltberühmt war, verschaffte Schweitzer als prominenter Fürsprecher der Bewegung gegen die wachsende Gefahr eines Atomkrieges Gehör. 1954 wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nicht zwischenstaatliche Verträge oder internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen könnten ein Ende aller Kriege bewirken, sondern einzig eine ethische Grundhaltung, erklärte er in seiner Nobelpreisrede. Die Menschheit müsse jeden Krieg verwerfen, «weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden lässt». 

Manchen wurde es schon damals zu viel mit dem Rummel um den allseits geehrten und verehrten Doktor. «Er sieht aus wie ein naher Verwandter des lieben Gottes. Und er benimmt sich so», ätzte das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» 1960. «Er wird von einer Menschheit, die nicht nach seiner Moral leben will, als grösster Moralist gefeiert. Nicht bereit, ihm zu folgen, ist sie bereit, ihm zu huldigen.» 

Kolonialistischer Blick
Manches an Schweitzers Weltbild wirkt aus heutiger Sicht sehr fragwürdig. So blieb sein Blick auf die Menschen in Zentralafrika stets vom europäischen Kolonialismus geprägt. Die Unabhängigkeit der Afrikaner betrachtete er mit Argwohn, weil er ihnen nicht zutraute, dass sie ohne wohlwollende Hilfe der Weissen zurechtkommen könnten.

Bis heute gibt es Institutionen, die sich dem Universalgelehrten und seinem Wirken verbunden fühlen, etwa das Deutsche Albert-Schweitzer-Zentrum in Offenbach. Auch das Albert-Schweitzer-Spital in Lambaréné existiert nach wie vor. Mittlerweile wird es überwiegend vom Staat Gabun finanziert.

Sponsoren in Europa unterstützten die Klinik unter anderem bei der Medikamentenbeschaffung und bei einem mobilen Mutter-Kind-Dienst. 

Orgelklang als Grundmelodie seines Lebensweges
Wer das Schaffhauser Münster betritt, dem begegnet an der Nordwand unweigerlich ein schnauzbärtiger Mann aus Bronze. Er schaut konzentriert und ernst auf seine Hände. Die Skulptur steht etwas unvermittelt im Münster. Warum wird hier Albert Schweitzers, einer der bekanntesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, gedacht?  

Das Orgelspiel begleitete Schweitzer seit seiner Kindheit. Mit fünf brachte ihm sein Vater, Pfarrer in Gunsbach, das Klavierspielen bei, und mit neun konnte er in Vertretung Gottesdienste begleiten. Schweitzer erinnert sich später, dass seine Tante ihn immer zum Üben anhalten musste, aufmunternd mit den Worten, dass ihm das Orgelspiel im Leben noch grossen Nutzen bringen könne. Während seiner Studienzeit nahm er Stunden bei Charles Marie Widor in Paris. Besonderen Eindruck hinterliess bei ihm aber die Musik von Johann Sebastian Bach. 

Seinem Lehrer Widor konnte Schweitzer durch sein theologisches Wissen und sein deutsches Sprachgefühl manche Stelle in Chorälen aufschliessen und erklären. Die engen «Wort-Klang-Verbindungen», die Bach als Stilmittel verwendet, begann Schweitzer systematisch zu beschreiben.

Es entstand eine bis heute bedeutende umfangreiche Bach-Biografie (1905 auf Französisch, 1908 stark erweitert auf Deutsch), in der er auch Gewicht auf die Aufführungspraxis legte. Für ihn ist Bach so wesentlich, weil dessen Musik zur Fantasie der Hörer rede und in den Menschen allen Jubel und allen Schmerz, der ein Menschenherz bewegt, erklingen lasse. 

Ein Pedalklavier im Urwald

Die Orgelmusik wurde Schweitzer tatsächlich ein lebenslanger Begleiter, von persönlicher Bedeutung, aber auch sonst von grossem Nutzen. Um sein Spital in Gabun zu finanzieren und zu unterhalten, gab er Orgelkonzerte in Europa und hielt Vorträge. Damit er die Konzerte in Lambarene vorbereiten konnte, wurde extra ein Klavier mit Pedalen dorthin transportiert.

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Bild: Bronzestatue von Albert Schweitzer beim Schaffhauser Münster: Die Finger sind weit gespreizt, als ob er auf einer unsichtbaren Klaviatur spielt, wie andere auf Luftgitarren. Foto: Ute Nürnberger

Zur Skulptur
Die Skulptur «Dr. Albert Schweitzer an der Orgel» (1951) hat der bekannte Basler Künstler Alexander Zschokke geschaffen. Er durfte für seine vorbereitenden Skizzen mit auf die Empore in Gunsbach (Elsass), als Albert Schweitzer, der Urwaldarzt, wieder einmal in seinem Heimatort die Orgel spielte und morgens von vier bis sechs übte. 

Für Konzerte und Vorträge kam er schliesslich auch mehrfach nach Schaffhausen. Mit seiner Begeisterung für die Musik Bachs hat er hier bleibende Spuren hinterlassen: als Ehrenpräsident der Internationalen Bachgesellschaft, die beim ersten Bachfest 1946 in Schaffhausen gegründet wurde. 

Orgelbaukunst
Es gibt Menschen, die fahren Auto, ohne sich zu fragen, wie es eigentlich funktioniert. Und andere, die von Antrieb bis Lenkung alles ganz genau wissen wollen. Zu den Letzteren gehörte Schweitzer in Sachen Orgel. Es war der Grossvater mütterlicherseits, Pfarrer Johann Jakob Schillinger, der im jungen Albert das Interesse für die Orgel als Instrument hoher Kunstfertigkeit und mit vielfältiger Klanggestalt weckte. So lernte er früh Instrumente von innen kennen und liebte die «Silbermann-Orgeln des Elsass». Sein Interesse vertiefte er durch jahrzehntelange Orgelbaustudien.
Zeitweilen nahm er Einfluss, wenn es um die Zukunft grosser Orgeln ging. Dass wir im St. Johann bis heute eine «romantische Kuhn-Orgel» haben, liegt unter anderem auch an seiner energischen Intervention, als man 1929 überlegte, diese zu modernisieren oder ganz zu ersetzen. 

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150. Geburtstag
Mit verschiedenen Veranstaltungen wird nun an Albert Schweitzer erinnert, an sein Lebenswerk in Lambarene, seine Vorliebe für Bachs Musik und das Orgelspiel. Aber auch an seine Ethik der «Ehrfurcht vor dem Leben» und seinen Pazifismus, die bis heute wertvolle Diskussionsanstösse geben können. 

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ALBERT SCHWEITZER: GRENZENLOSE MENSCHLICHKEIT IM DENKEN UND HANDELN

Albert Schweitzer gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Als Theologe, Musiker und Philosoph verfasste er wegweisende wissenschaftliche Werke. Ferner wurde er als Organist und Bach-Interpret weltweit bekannt. Nach einem zusätzlichen Medizinstudium baute er in Afrika ein Spital auf, das bis heute besteht. Er begründete eine universell gültige Ethik der Verantwortung für alles Leben und kämpfte noch im hohen Alter für atomare Abrüstung und Frieden in der Welt. Schweitzers Denken und Handeln bilden eine glaubwürdige Einheit. Angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung der Schöpfung ist seine Botschaft an die Menschheit aktueller denn je.

Albert Schweitzer [1875–1965] –  Lebensweg und Lebenswerk

Am 14. 1. 1875 in Kaysersberg (Elsass) geboren, wuchs Schweitzer in Gunsbach (Nähe Colmar) auf, wo sein Vater als Pfarrer tätig war. Nach einem Doppelstudium der Theologie und Philosophie an der Universität Straßburg wurde er Vikar und zusätzlich Universitätsdozent für Neues Testament. Zudem war er ein herausragender Orgelvirtuose, Orgelexperte und Kenner von Johann Sebastian Bachs Musik. Trotz seiner großen Erfolge gab er die Universitätslaufbahn auf. Nach einem zusätzlichen Medizinstudium baute er in Lambarene (Gabun) ein Urwaldhospital auf, das bis heute besteht. Ferner schrieb er eine „Kulturphilosophie“, in der er die Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben begründete. In den Fünfziger Jahren engagierte er sich für eine atomare Abrüstung und den Frieden in der Welt. Für seine humanitäre Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Albert Schweitzer starb am 4. 9. 1965 in Lambarene, wo er auch beerdigt wurde.

Albert Schweitzer – zuhause in vielen Wissenschaften, unterwegs zwischen den Kontinenten

Schweitzer war nicht nur in der Theologie, der Philosophie, der Musikwissenschaft, der Medizin und als Organist in der musikalischen Kunst zu Hause. Er war zeitlebens in seinem Denken und Handeln grenzüberschreitend unterwegs zwischen den Kontinenten, – im geografischen wie auch im kulturell-geistigen Sinn. Dass er als erfolgreicher Universitätsdozent und Bachinterpret nicht sein Genüge fand, sondern sich zu einem aufopferungsvollen Dienen an hilfsbedürftigen Menschen, für die Menschheit, ja für alles Leben „auf den Weg machte“, geht auf einen Entschluss aus seiner frühen Studentenzeit zurück. Dazu heißt es in seinen Lebenserinnerungen:

„Es kam mir unfasslich vor, dass ich, wo ich so viele Menschen um mich herum mit Leid und Sorge ringen sah, ein glückliches Leben führen durfte. (…)“

„An einem strahlenden Sommermorgen, als ich – es war im Jahre 1896 – in Pfingstferien zu Günsbach erwachte, überfiel mich der Gedanke, dass ich dieses Glück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse. Indem ich mich mit ihm auseinandersetzte, wurde ich … mit mir selber dahin eins, dass ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahre für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen.“

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Der Kulturphilosoph Albert Schweitzer

„Wahre Kultur ist etwas Geistiges und Ethisches, nämlich die edelste und tiefste Menschlichkeit“.

Schon den 25-jährigen Albert Schweitzer bedrückte die Sorge um die allgemeine Kulturentwicklung zur Jahrhundertwende. Äußerlich schien dazu wenig Grund:

Wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen, der Zuwachs an Wissen und Können erfüllte die Menschen mit großem Zukunftsoptimismus. Auch in geistig-kultureller Hinsicht war man von einer entsprechenden Besserung der Lebensverhältnisse allgemein überzeugt. Dies hielt der junge Schweitzer jedoch für einen Trugschluss. Näher betrachtet, war mit dem materiellen Fortschritt keineswegs eine Besserung der menschlichen Gesellschaft einhergegangen; im Gegenteil: Ein zunehmender „Verfall der Kultur“ war zu beobachten, der durch die Katastrophe des ersten Weltkrieges eine ruinöse Bestätigung erhalten sollte.

„Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur“, so leitet Schweitzer seine Kulturphilosophie ein, um fortzufahren: „Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. er selber ist nur eine Erscheinung davon“.1 Und im weiteren Verlauf seiner Kulturkritik kommt er zu der alarmierenden Feststellung: „Ein Unfreier, ein Ungesammelter, ein Unvollständiger, ein sich in Humanitätslosigkeit Verlierender, ein seine geistige Selbständigkeit und sein moralisches Urteil an die organisierte Gesellschaft Preisgebender: so zog der moderne Mensch seinen dunklen Weg in dunkler Zeit.“ Die Weltlage, in der wir uns heute befinden, könnte kaum treffende umschrieben werden.

Auch in der Abgelegenheit des Afrikanischen Urwaldes ließ Albert Schweitzer die bedrückende Sorge um den Kulturverfall nicht los. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit und dem Aufbau des Spitals trieb ihn innerlich fortwährend die Frage um, auf welcher Grundlage ein „Wiederaufbau der Kultur“ möglich wäre. Denn eines war ihm grundsätzlich klar geworden: Eine Kultur und Gesellschaft, die ihr Heil allein im wissenschaftlich-technischen Fortschritt sucht, ist zum Scheitern verurteilt. Was allein die Menschheit retten kann, ist eine ethisch-geistige Erneuerung von Grund auf. Nicht das materielle Wohl, sondern das geistige Wohl des Ganzen und der Vielen muss bestimmend werden. „Der ethische Fortschritt ist also das Wesentliche und Eindeutige, der materielle das weniger Wesentliche und das Zweifelhafte in der Kulturentwicklung.“ Wie aber kann sich die Kultur im ethischen Sinne erneuern?

„Die große Revision der Überzeugungen und Ideale, in denen und für die wir leben, kann sich nicht so vollziehen, dass man in die Menschen unserer Zeit andere, bessere Gedanken hineinredet als die, die sie haben. Sie kommt nur so in Gang, dass die Vielen über den Sinn des Lebens nachdenkend werden …“
[Albert Schweitzer: Kulturphilosophie Bd. 1, München 2007, S. 69f.]

Das Ergebnis seines Denkens legte Schweitzer in zwei Bänden seiner „Kulturphilosophie“ erstmals 1923 vor, die er später weiter ausarbeiten sollte. Dies dokumentieren insbesondere die inzwischen veröffentlichten umfangreichen Nachlassbände der „Kulturphilosophie III“ sowie der Band „Wir Epigonen“.

Erneuerer der Kultur im Denken

Kulturfortschritt liegt für Schweitzer … „Gesinnungen“. Sein größtes Hindernis ist die allgemein herrschende „Gedankenlosigkeit“. Eine neue ethische Kulturgesinnung kann hingegen nur aus einem eigenständigen „elementaren Denken“ erwachsen. Wenn sich der einzelne Mensch auf die „Vernunftideale“ besinnt und trotz aller Widersprüche, Not und Leid „Ja“ sagt zum Leben, dann ist eine ethische Kulturentwicklung möglich.

„Ethisch werden heißt wahrhaft denkend werden.“ Eine Besinnung auf die Vernunftideale ist keine rein intellektuelle Beschäftigung oder dürre Erstandestätigkeit. Sie beruht auf der tiefen Einsicht, dass „das Herz mitzureden hat mit dem Verstand!“.

„Das Gefühl, das sich dem Denken entzieht, verfehlt seine Bestimmung. Das Denken, das meint, am Gefühl vorbeigehen zu können, kommt von dem Wege ab, der in die Tiefe führt. Wo das Gefühl in das Denken hinaufreicht und das Denken in das Gefühl hinabreicht, ist unser ganzes Wesen an dem Gestalten der Überzeugungen, die wir in uns tragen, beteiligt.“

Das entscheidende Fundament der Kulturerneuerung bildet eine im Denken begründete, universell gültige Ethik, die jeder Mensch verstehen kann, gleich welcher Hautfarbe, Nationalität oder Religion. Wie lässt sich diese Ethik im Denken begründen?

Begründer einer universellen Ethik

„Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vordem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben.“

Albert Schweitzer schreibt in „Aus meinem Leben und Denken“ von seiner geradezu quälenden Suche nach einem Grundbegriff für eine „Dauer habende, tiefere und  lebendigere ethische Kultur“. Diese sollte nicht nur für die Beziehung zum anderen Menschen gelten, sondern alle Lebewesen einbeziehen.

„Den großen Grundakkord gilt es zu finden, in dem die Dissonanzen dieses verschiedenartig und gegensätzlich Ethischen sich in Harmonie auflösen. Das ethische Problem ist also das Problem des im Denken begründeten Grundprinzips des Sittlichen. Was ist das gemeinsam Gute an dem Mannigfaltigen, das wir als gut empfinden? Gibt es einen solchen allgemeinsten Begriff des Guten? … Welche Macht übt er auf meine Gesinnungen und Handlungen aus?“

Bei allem Bemühen muss sich das Denken eingestehen, dass der Sinn des Lebens nicht aus dem Sinn des Weltgeschehens zu begreifen ist. Für Schweitzer konnte im Ringen um den Grundbegriff des Ethischen nur ein Weg ins Freie führen: Nicht die Betrachtung der Welt, sondern erst die Besinnung auf uns selbst und unser inneres Verhältnis zur Welt und zu dem uns umgebenden Leben. Schweitzer berichtet, wie ihm in der Situation seiner Ratlosigkeit und Suche nach einem ethischen Grundbegriff bei einer Fahrt auf dem Ogowe 1915 plötzlich das Wort „Ehrfurcht vor dem Leben“ in den Sinn kam. Zugleich ging ihm auf, dass dieses Wort eine Ethik in sich trägt, die alles Bisherige hinter sich lässt: Sie beschränkt sich nicht mehr nur auf das Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen, sondern sie umfasst alles Leben. Aus der Idee der Verbundenheit mit allen Lebewesen gelangen wir in ein „geistiges Verhältnis zum Universum“.

„Ethisch werden heißt wahrhaft denkend werden.“

Wie aktuell ist Schweitzers Ethik der Verbundenheit mit allen Wesen?

Angesichts der heutigen ökologischen, sozialen und politisch-wirtschaftlichen Herausforderungen und Probleme ist Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben von höchster Aktualität. Wir sitzen – global betrachtet – alle in einem Boot. Jeder Einzelne muss für sich selbst als „Leben inmitten von Leben“ prüfen, wie weit er in seiner Verantwortung für anderes Leben gehen kann und gehen will.

„Erlebt der Mensch seine Verbundenheit mit allen Wesen, so entspringt daraus die Nötigung zu einem ins Uferlose gehenden Dienen.“ „… In tiefer Ehrfurcht vor dem Leben und in tiefem Empfinden für Weh und Angst haben wir zu suchender Barmherzigkeit zu dienen und Erlösung zu bringen. Wo wir aus Notwendigkeit so oft Leid und Tod über Geschöpfe bringen, müssen wir da, wo wir als Freie handeln dürfen, um so mehr darauf aus sein, sie zu schonen und ihnen Helfer zu sein.“

Die Menschheitsprobleme und gesellschaftlichen Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Schweitzers Botschaft ist allerdings nicht, darauf zu warten, dass die mächtigen staatlichen und überstaatlichen Organisationen die Probleme lösen. Jeder Einzelne trägt die Verantwortung, in seinem Umkreis lebenserhaltend tätig zu werden. Und nur über das Wirken der vielen Einzelnen im Kleinen können nachhaltige Verbesserungen der Lebensverhältnisse im Großen erwartet werden.

„Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“

Wenn wir aus der Gesinnung der Ehrfurchtsethik handeln, dann können wir „nicht kalt nach ein für allemal festgelegten Prinzipien entscheiden, sondern (müssen) in jedem einzelnen Falle um unsere Humanität kämpfen“. „Als Kompass dient … (hierzu) die Idee der Erhaltung und Förderung von Leben.

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Albert Schweitzer, Bach und die Orgelbaukunst

„Bach verfügt geradezu über eine Tonsprache. Es gibt bei ihm stetig wiederkehrende rhythmische Motive der friedvollen Glückseligkeit, der lebhaften Freude, des heftigen Schmerzes, des erhabenen Schmerzes.“ „Wer möchte jemals ergründen, wie es möglich ist, dass diese Musik unsere Seelen so friedvoll und stille macht … Aber erfahren wird es jeder, der sie nicht nur mit dem Ohr, sondern auch mit der Seele hört, dass er hier auf heiligem Boden wandelt und in Bach einen Freund und Tröster besitzt, den Weg der Stille und des Friedens zu finden.“

„In der Hochschätzung Bachs (…) gibt sich kund, dass unter den Menschen unserer Zeit der Sinn für das einfache gediegene, vollendete, wahrhaft Wertvolle und wahrhaft Tiefe noch vorhanden ist und dass in unserer Welt, die im Banne so vieler äusserlicher und törichter Ideale steht, dennoch Kräfte der Verinnerlichung am Werke sind. Verinnerlichung tut unserer Zeit und uns allen not.“ „Dichterisch und malerisch ist seine Musik“: „Redet der Text von Nebeln, die auf- und niederwogen, von Winden, die einherbrausen, (…) von dem zuversichtlichen Glauben, der in festen Schritten einherschreitet, (…) von Stolzen, die erniedrigt, und von Demütigen, die erhöht werden, vom Satan, der sich aufbäumt, und von Engeln, die sich auf den Wolken des Himmels wiegen: so sieht und hört man dies alles in seiner Musik. Bach verfügt geradezu über eine Tonsprache. Es gibt bei ihm stetig wiederkehrende rhythmische Motive der friedvollen Glückseligkeit, der lebhaften Freude, des heftigen Schmerzes, des erhabenen Schmerzes.“ „Bachs Musik ist eine andere Welt. (…) Wir schauen bei ihm das Leben, als wandelten wir auf einer Höhe, von milder Sonne umflossen, und sähen es durch blauen Nebel hindurch zu unsern Füßen ausgebreitet.“ „Wer möchte jemals zu ergründen, wie es möglich ist, dass diese Musik unsere Seelen so friedvoll und stille macht … Aber erfahren wird es jeder, der sie nicht nur mit dem Ohr, sondern auch mit der Seele hört, dass er hier auf heiligem Boden wandelt und in Bach einen Freund und Tröster besitzt, den Weg der Stille und des Friedens zu finden.“ „Festzuhalten ist, dass Bach, wie alles ganz Erhabene in der Religion, nicht der Kirche, sondern der religiösen Menschheit gehört, und dass jeder Raum Kirche wird, in welchem seine geistlichen Werke mit Sammlung und Andacht aufgeführt und angehört werden.“

Bei seinen vielen Konzerten kam Schweitzer mit fast allen berühmten Orgeln in Kontakt. Dabei erkannte er, dass die modernen Orgeln keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt darstellen. Seine Kritik richtete sich u. a. gegen die elektrischen Gebläse, die den Wind mit hohem Druck in die Pfeifen jagen und dadurch ein Tonchaos erzeugen, das der Bach’schen Musik Gewalt antut. Albert Schweitzer gab entscheidende Impulse für eine Reform des Orgelbaus. Auf dem Kongress der Internationalen Musikgesellschaft von 1909 arbeitete er mit Gleichgesinnten grundlegende Orgelbaurichtlinien aus: ein „Internationales Regulativ für Orgelbau“, „das mit der blinden Bewunderung rein technischer Errungenschaften aufräumte und wieder gediegene, klangschöne Instrumente verlangte“.

Musiker, Orgelexperte und Wiederentdecker Bachs

„Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, Sie Bach hören zu lassen in der vertieften Interpretation, zu der ich in der Einsamkeit Afrikas gelangt bin.“

Von Kind an erhielt Schweitzer Klavier- und Orgelunterricht. Schon mit neun vertrat er den Organisten in seiner Günsbacher Heimatkirche. Nach Unterricht bei dem Pariser Orgelvirtuosen Charles-Marie Widor entwickelte sich Schweitzer zu einem der großen Organisten und Bachinterpreten seiner Zeit. Schweitzer widmete dem Werk Johann Sebastian Bachs umfangreiche Bücher. Er entdeckte Bach als „Dichter und Maler in Musik“ und sieht bei ihm „das Gefühlsmäßige wie das Bildliche … mit größtmöglicher Lebendigkeit und Deutlichkeit“ vertont. Neben dem Orgelspiel beschäftigte sich Schweitzer eingehend mit dem Orgelbau. Er war ein europaweit gefragter Experte für die Renovierung alter und den Bau neuer Orgeln. Mit zahlreichen Orgelkonzerten in ganz Europa finanzierte er zu einem wesentlichen Teil den Aufbau seines Lambarene-Spitals.

„Zur Pflege des Orgelspiels stand mir das herrliche, eigens für die Tropen gebaute Klavier mit Orgelpedal zur Verfügung, das die Pariser Bachgesellschaft mir als ihrem langjährigen Organisten geschenkt hatte. Anfangs fehlte es mir aber an Mut zum Üben. Ich hatte mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass das Wirken in Afrika das Ende meiner Künstlerlaufbahn bedeute, und glaubte, dass mir der Verzicht leichter würde, wenn ich meine Finger und Füße einrosten ließe. Eines Abends aber, als ich wehmütig eine Bachsche Orgelfuge durchspielte, überkam mich plötzlich der Gedanke, dass ich die freien Stunden in Afrika gerade dazu benutzen könnte, mein Spiel zu vervollkommnen und zu vertiefen. Alsbald fasste ich den Plan, Kompositionen von Bach, Mendelssohn, Widor, César Franck und Max Reger nacheinander vorzunehmen, sie bis in die letzten Einzelheiten durchzuarbeiten und auswendig zu lernen, gleichviel ob ich Wochen und Monate auf ein einziges Stück verwenden müsste. Wie genoss ich es nun, so ohne zeitliche Gebundenheit durch fällige Konzerte, in Muße und Ruhe zu üben, wenn ich zeitweise auch nur eine halbe Stunde im Tage dafür aufbringen konnte!“ „Auch hier merke ich den Segen des weltfernen Arbeitens. Viele Bachsche Orgelstücke lerne ich einfacher und innerlicher auffassen als früher.“ „Urwaldeinsamkeit, wie kann ich dir jemals danken für das, was du mir warst! …“

„Dem Kampf um die wahre Orgel habe ich viel Zeit und Arbeit geopfert.“

Seine Kritik richtete sich unter anderem gegen die elektrischen Gebläse, wie sie zur Zeit Schweitzers zum Einsatz kamen, die den Wind mit viel zu hohem Druck in die Pfeifen jagen und dadurch ein Tonchaos erzeugen, das der Bach’schen Musik Gewalt antut. Albert Schweitzer gab entscheidende Impulse für eine Reform des Orgelbaus. Auf dem Kongress der Internationalen Musikgesellschaft von 1909 arbeitete er mit Gleichgesinnten grundlegende Orgelbaurichtlinien aus: ein „Internationales Regulativ für Orgelbau“, „das mit der blinden Bewunderung rein technischer Errungenschaften aufräumte und wieder gediegene, klangschöne Instrumente verlangte“.

„Durch ihren gleichmäßig und dauernd aushaltbaren Ton hat die Orgel etwas von der Art des Ewigen an sich“

Die besten Orgeln wurden laut Schweitzer zwischen 1850 und 1880 erbaut. Die Orgeln von Silbermann oder von Aristide Cavaillé-Coll kamen für ihn dem Ideal am nächsten. Einer der bedeutendsten Orgelbauer war für ihn Cavaillé-Coll, der Schöpfer der Orgeln zu Notre Dame und zu St. Sulpice in Paris. Letztere hielt Schweitzer für eine der schönsten der ihm bekannten Orgeln.

„Durch Erfahrungen, die eine Generation von der andern übernahm und ihrerseits machte, waren die alten Orgelbauer auf die besten Mensuren (Maßproportionen) und Formen der Pfeifen gekommen. Auch verwandten sie zum Bau derselben nur bestes Material. Der moderne Orgelbau (…) spart … am Material, um möglichst billig zu bauen. So stehen in der heutigen Fabrikorgel vielfach Pfeifen, die nicht klingen, weil sie einen zu geringen Durchmesser und zu dünne Wandungen haben oder aus anderem Material gearbeitet sind als aus bestem Holz oder aus bestem Zinn. (…) Wenn die alten Orgeln besser klingen als die heute erbauten, so liegt dies gewöhnlich auch daran, dass sie günstiger stehen. Der beste Platz für die Orgel ist bei einem nicht besonders langen Schiff der über dem Eingang, gegenüber dem Chor. Hier steht sie hoch und frei. Ihr Klang kann sich nach allen Seiten hin ungehemmt entfalten.“ „Bachs Orgelwerke (…) verlieren ihren wahren Charakter, wenn sie zu schnell gespielt werden. Sie verlieren ihre Wirkung, weil der Hörer den Tonlinien nicht mehr folgen und den Aufbau des Werkes nicht mehr erfassen kann, sondern nur ein Chaos von Tönen hört. (…) Bach selbst konnte nicht daran denken, seine Werke schnell zu spielen, weil die Mechanik seiner Manuale schwer zu spielen war. Ich selbst habe im Elsass noch Silbermann-Orgeln gespielt, bei denen das Niederdrücken der Tasten einen wirklichen Kraftaufwand erforderte. Ein anderes Hindernis ist die Tatsache, dass bei diesen alten Orgeln die Tasten zweimal so tief gehen wie bei modernen Orgeln. … aber wie wunderbar ist doch ihr Klang!“

Retter alter Orgeln

Nächtelang studierte Schweitzer Orgelpläne; Hunderte von Orgeln nahm er unter die Lupe. So manche wertvolle alte Orgel bewahrte er vor dem Abriss und beriet viele Gemeinden bei der Anschaffung neuer Orgeln.

„In die Hunderte und Hunderte gehen die Briefe, die ich an Bischöfe, Dompröpste, Konsistorialpräsidenten, Bürgermeister, Pfarrer, Kirchenvorstände, Kirchenälteste, Orgelbauer und Organisten schrieb, sei es, um sie zu überzeugen, dass sie ihre schöne alte Orgel restaurieren sollten, statt sie durch eine neue zu ersetzen, sei es, um sie anzuflehen, nicht auf die Zahl, sondern auf die Qualität der Stimmen zu sehen und das Geld … für bestes Material der Pfeifen zu verwenden. (…) Die schwersten Kämpfe galten der Erhaltung alter Orgeln. Welche Beredsamkeit habe ich aufwenden müssen, um Todesurteile, die über schöne alte Orgeln ergangen waren, rückgängig zu machen! (…) Die erste alte Orgel, die ich – mit welcher Mühe! – errettet habe, ist das schöne Werk von Silbermann zu St. Thomas in Straßburg.

„Der Klang einer alten Orgel umflutet den Hörer, während der der neuen wie eine Brandung auf ihn zukommt.“

Albert Schweitzer und Johann Sebastian Bach

Schweitzer schrieb umfangreiche Werke über Bachs Musik. Schweitzers Orgellehrer Charles-Marie Widor regte zu einem Buch über Johann Sebastian Bach an, durch das die französische Orgelwelt stärker mit der für Bach grundlegenden protestantischen Kirchenmusik und ihrem Wortbezug vertraut gemacht werden sollte  Was als Aufsatz und Anleitung für Konservatoriumsschüler gedacht war, wuchs in der Ausarbeitung zu einem 455-Seiten-Werk (Jean-Sébastien Bach, le musicien-poète, Paris u. Leipzig 1905) an, das er in französischer Sprache abfasste.

Das Buch fand schlagartig großen Anklang in der Fachwelt, mit der Folge, dass eine deutsche Übersetzung erforderlich wurde. Es entstand ein völlig neu bearbeitetes, nahezu doppelt so umfangreiches Werk über Bach. Das deutsche Bachbuch erzielte eine Auflagenhöhe, die alles Vergleichbare der Musikliteratur samt Übersetzungen übertrifft. Es gilt auch heute noch – hundert Jahre später – als musikwissenschaftliches Standardwerk. „Das Größte an dieser urlebendigen, wunderbar plastischen, einzigartig formvollendeten Kunst ist der Geist, der von ihr ausgeht. Eine Seele, die sich aus der Unruhe der Welt nach Frieden sehnt und Frieden schon gekostet hat, lässt darin andere an ihrem Erlebnis teilhaben.“ „Was Bach mir ist? Ein Tröster. Er gibt mir den Glauben, dass in der Kunst wie im Leben das wahrhaft Wahre nicht ignoriert und nicht unterdrückt werden kann, auch keiner Menschenhilfe bedarf, sondern sich durch seine eigene Kraft durchsetzt, wenn seine Zeit gekommen.“

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Albert Schweitzer: Spitalgründer und Arzt in Lambarene

Der Theologieprofessor und Prediger Albert Schweitzer wollte nicht länger nur von der „Religion der Liebe“ reden, sondern sie im Tun verwirklichen. Seine Bemühungen, 1903 als junger Direktor des theologischen Stifts in Straßburg verwahrloste Kinder aufzunehmen, scheiterten am Widerstand der Sozialbehörden. Im folgenden Jahr wurde er auf einen Aufruf der Pariser Missionsgesellschaft aufmerksam, die für die französische Kolonie Gabun dringend Mitarbeiter suchte. Jedoch wollte man ihn wegen seiner für zu liberal gehaltenen Theologie nicht als Missionar, sondern nur als Arzt akzeptieren. Denn gerade Ärzte wurden dort dringend benötigt. So entschloss sich Schweitzer zum Medizinstudium, das er in den Jahren 1905 – 1911 absolvierte. Daneben führte er seine theologische Lehrtätigkeit, Predigtamt sowie Konfirmandenunterricht fort, schrieb seine umfangreichen Werke über Spitalgründer und Arzt in Lambarene, „Arzt wollte ich werden, um ohne irgendein Reden wirken zu können.” Jesus und Bach und gab weiter Orgelkonzerte. Nach Staats examen und praktischem Klinikjahr wurde er 1913 mit der Arbeit „Die psychiatrische Beurteilung Jesu“ zum Dr. med. promoviert. Kurz darauf trat er, begleitet von seiner Frau Helene, geb. Bresslau, seinem „treuesten Kameraden“, die lange Reise nach Afrika an, mit 70 Kisten zur medizinischen und haushaltstechnischen Grundversorgung. Finanziert hatte er die Ausrüstung mit privaten Spenden aus dem Kollegen- und Freundeskreis sowie eigenen Konzert- und Vortragshonoraren.

„In der Not entschloss ich mich, den Raum, den mein Vorgänger im Hause, Missionar Morel, als Hühnerstall benutzt hatte, zum Spital zu erheben. Man brachte mir einige Schäfte [Regale] an der Wand an, stellte eine alte Pritsche hinein und strich mit einer Kalklösung über den ärgsten Schmutz. Ich fühlte mich überglücklich …“

Schweitzers Frau Helene war ihm von Anfang an eine unentbehrliche und tatkräftige Helferin:

„Meine Frau hat die Instrumente unter sich und trifft die Vorbereitungen zu den chirurgischen Eingriffen, bei denen sie als Assistentin fungiert. Zugleich hat sie die Oberaufsicht über die Verbandsstoffe und die Operationswäsche.“ „Ich sitze den ganzen Tag in dem alten Hühner – stall ohne Fenster. Sein Dach ist durchlöchert, so dass ich die ganze Zeit den Tropenhelm aufhaben muss, was eine Qual bedeutet. Die geringste Operation ist in diesem Raume mit den größten Umständen verbunden.“ „Für den Arzt, welch ein Elend! Geschwüre, Aussatz, Schlafkrankheit mit ihren entsetzlichen Schmerzen. – … Und wie dankbar sind sie, wenn man ihre Geschwüre verbindet! Es braucht aber Berge von Verbandszeug! Betteln Sie für mich überall altes Leinenzeug zusammen, wenn es auch noch so zerrissen ist …“ „Aber was bedeuten alle diese vorübergehenden Widerwärtigkeiten im Vergleich zu der Freude: hier wirken und helfen zu dürfen!“

Helene Schweitzer, der „treueste Kamerad“

„Wir wollen miteinander für etwas leben“

„Ohne sie wäre niemals etwas aus meinen Plänen geworden“ – würdigte Albert Schweitzer im Rückblick die Bedeutung seiner Ehefrau Helene für den Aufbau seines Urwald-Spitals.

Die am 25. Januar 1879 in Berlin geborene Tochter des angesehenen Universitätsprofessors für Geschichte Dr. Harry Bresslau lässt schon durch ihren Bildungsweg ihre vielseitige Begabung und tiefe humanitäre Gesinnung erkennen: Nach Lehrerinnenexamen, Studien der Musik und Kunstgeschichte sowie einer Ausbildung zur Krankenschwester betreute sie jahrelang als Sozialarbeiterin in Straßburg Waisenkinder und wurde Mitbegründerin eines Heims für hilfsbedürftige werdende Mütter.

Seit 1898 war sie mit Albert Schweitzer befreundet, mit dem sie die ausgeprägte Verantwortung für Arme und Benachteiligte verband. Dies spiegelt sich auch in ihrem regen Briefwechsel. Zudem wurde ihm Helene eine unentbehrliche Helferin bei der sprachlichen Überarbeitung seiner Predigten und Buchmanuskripte. Im Juni 1912 fand die von Eltern und Freunden schon lange erwartete Hochzeit statt.

Helene und Albert Schweitzer in Lambarene

„Ich gehe im Sommer nicht allein in den Congo, ich nehme ein reizendes junges Mädchen mit als Gattin und als medizinische Assistentin. Sie heisst Helene Bresslau und ist die Tochter des Geschichtsprofessors an der Universität. Sie war meine Mitarbeiterin bei allen meinen literarischen Arbeiten und hat grosse Kenntnisse in Medizin, da sie zwei Jahre in Spitälern als Krankenpflegerin verbracht hat. Seit Jahren sind wir gute Freunde.“
Albert Schweitzer – kurz nach seiner Heirat mit Helene Bresslau 1912

„Es sind nun 43 Jahre, seit wir Freunde wurden und gemeinsam zu arbeiten begannen. Wir begegneten einander in dem Gefühl der Verantwortlichkeit für all das Gute, was wir in unserem Leben empfangen hatten, und in dem Bewusstsein, dass wir dafür zu bezahlen hätten durch Hilfeleistung gegenüber anderen. Es ist die Freude und der Stolz meines Lebens gewesen, ihm bei all seiner Tätigkeit zu folgen und zur Seite zu stehen; und ich bedauere nur, dass Mangel an Kraft mich hinderte, mit ihm Schritt zu halten.“

„Erste und älteste Krankenschwester von Lambarene“

Im Frühjahr 1913 begleitete Helene ihren Mann nach Afrika, um mit ihm in Lambarene ein Urwald-Spital aufzubauen. Als gelernte Krankenschwester war sie ihm eine unentbehrliche Helferin. Das tropische Klima setzte jedoch ihrer Gesundheit stark zu. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges nahm der gemeinsame Spitalaufbau ein vorläufiges Ende. Nach ihrer Zwangsinternierung 1917/18 kehrten Helene und Albert Schweitzer im Sommer 1918 ins Elsass zurück. Am 14. Januar 1919, dem 44. Geburtstag des Vaters, wurde ihre Tochter Rhena geboren. Als Albert Schweitzer 1924 wieder nach Lambarene reiste, um das inzwischen zerstörte Spital an anderer Stelle erneut aufzubauen, musste er seine an Tuberkulose erkrankte Frau Helene schweren Herzens zurücklassen. Sie zog in den Luftkurort Königsfeld im Schwarzwald, wo ihr Mann ein Haus für sie erbaut hatte, um wieder zu genesen und sich um die Erziehung ihrer Tochter zu kümmern.

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 Der dreifache Neubau des Spitals

Im Spätherbst 1913 konnte der Hühnerstall als Behandlungsraum durch eine 8 Meter lange und 4 Meter breite Wellblechbaracke am Ufer des Ogowe ersetzt werden. Es folgten größere Bambushütten zur Unterbringung der eingeborenen Kranken.

Bei allen Bauarbeiten zur Erweiterung des Spitals war Schweitzer stets Architekt und Vorarbeiter in einem. Nur wenn er selbst mit Hand anlegte, waren seine schwarzen Bauhelfer zur Mitarbeit zu bewegen. Im Ersten Weltkrieg wurden Albert und Helene Schweitzer in der französischen Kolonie Gabun als feindliche Ausländer betrachtet und daher 1917–18 in Frankreich gefangengesetzt. Es folgten weitere schwere Jahre im Elsass, in denen es aber gelang, für eine Rückkehr nach Lambarene über Konzerte und Vorträge, vor allem in Schweden, das nötige Geld zu sammeln. Im Frühjahr 1924 kehrte Schweitzer nach Lambarene zurück, um das inzwischen zerstörte Spital wieder aufzubauen. Währenddessen verdreifachte sich die Patientenzahl auf 150, was bereits 1925 ein neues Spital drei Kilometer stromaufwärts notwendig machte, diesmal aus beständigen Wellblechbauten. Um das neue, nunmehr „dritte“ Spital herum legte er ferner einen Garten zur Unterstützung der stets knappen Nahrungsversorgung an. 1927 wurde das Spital endlich bezugsfertig.

Ein ganz normaler 17-Stunden-Tag

„In Afrika war er zu einem Drittel Arzt, zu einem Drittel Baumeister, zu einem Drittel Schriftsteller mit musikalischem Nachtgebet in Toccaten und Fugen von Bach“. In Streitfällen betätigte er sich zudem als Dorfrichter und sonntags als Prediger. Der Vormittag galt in der Regel der ärztlichen Arbeit im Spital. Die Nachmittage waren mit dem Ausroden des Waldes, dem Aufbau neuer Krankenbaracken oder dem Anlegen von Plantagen und Wegen ausgefüllt. Nach dem Abendessen arbeitete er, wenn der Tag nicht zu anstrengend war, an seiner Kulturphilosophie. Schließlich verbrachte er halbe Nächte mit dem Beantworten von Briefen aus aller Welt, die sich säckeweise ansammelten – und dies mit einer von seiner Mutter ererbten „Schreibkrampfhand“. Die Mittagspause und Sonntagnachmittage nutzte Schweitzer zum Üben auf seinem Tropenklavier.

Das Spital wird tropentauglich

Die Krankenbaracken wusste Schweitzer in aller Einfachheit auf das Zweckmäßigste an das tropische Klima anzupassen: „Die Fußböden sind aus Zement. Die Fenster sind sehr groß und gehen bis unter das Dach. Damit ist gegeben, dass die heiße Luft sich nicht unter dem Dach sammelt, sondern entweichen kann. Jedermann ist erstaunt, wie kühl es bei mir ist, obwohl Wellblechbaracken in den Tropen als unerträglich heiß verschrien sind. Fenster aus Glas gibt es nicht, sondern nur feine Drahtgitter gegen Moskitos. Holzläden sind notwendig, der Gewitter wegen. Auch die Ausrichtung der Spitalgebäude hat Schweitzer mit Bedacht gewählt.

„Alle Gebäude sind ungefähr in der Richtung von Ost nach West orientiert, damit die Sonne immer über ihrem Giebel dahinzieht und sie nie die Flanke trifft.“

„Zum ersten Male, seitdem ich in Afrika wirke, sind meine Kranken menschenwürdig untergebracht. (…) Tiefbewegt gedenke ich der Freunde des Spitals in Europa. Im Vertrauen auf ihre Hilfe durfte ich die Verlegung des Spitals wagen und die Bambushütten durch Wellblechbaracken ersetzen.“

„Den ersten Abend im neuen Spital werde ich niemalsvergessen. Von allen Feuern und aus allen Moskitonetzen schallt mir entgegen: ‚Das ist eine gute Hütte, Doktor, eine gute Hütte!’“

Ein Spitaldorf für Mensch und Tier

Das neue Spital wird ein wirkliches Dorf.  Neben den Patienten mussten immer auch deren Familienangehörige mit beherbergt werden, von denen sie über die Wasserwege in Pirogen ins Spital gebracht und nach deren Genesung wieder heimtransportiert werden konnten. Zudem sorgten die Familien für die Ernährung ihrer kranken Angehörigen. „Jeden Morgen werden Freiwilligengruppen gebildet, um für den Unterhalt des Hospitals zu arbeiten. Die Frauen werden beauftragt, Palmöl zu pressen, die Wäsche zu waschen und im Garten zu arbeiten. Die Männer jäten das Unkraut in den Pflanzungen und leisten andere Dienste.

Lambarene war immer auch Heim- und Pflegestätte für elternlose, zugelaufene oder verletzte Tiere. Ziegen, Hühner, Antilopen, Pelikane, verwaiste Affen, Papageien, junge Wildschweine und viele andere Tiere ob groß oder klein genossen Gastrecht im Spitalgelände. Viele zog Schweitzer mit der Milchflasche eigenhändig auf, die ihm zu seinen Füßen oder auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer Gesellschaft leisteten. Die Gemeinschaft von Mensch und Tier im Spital war eine alltäglich gelebte Praxis der Ehrfurcht vor allem Leben.

„Gelebte Ehrfurcht vor dem Leben ist Gottesdienst.“

Das unaufhaltsame Wachsen des Spitaldorfes:  Lambarene von 1929 bis heute

Von 1929 bis zu seinem Tod 1965 folgten noch zwölf weitere Afrika-Aufenthalte Albert Schweitzers, unterbrochen meist von Vortrags- und Konzert reisen in Europa. Von dort kehrte er nie ohne umfangreiches Gepäck mit Medikamenten, Verbandsstoffen und für den Spitalbetrieb nötigen Gerätschaften sowie Geldspenden zurück.

Seine Hoffnung, mit Bautätigkeiten am Spital allmählich fertig zu werden, erfüllte sich jedoch nicht. Die unaufhörlich wachsende Zahl der Patienten machte einen ständigen Ausbau des Spitals erforderlich: Bis zu seinem Tod war das Spital unter seiner Anleitung auf über 70 Gebäude angewachsen. Darunter eine Säuglings- und Kinder station und sogar ein eigenes Dorf für Lepra-Kranke.

Kurz vor seinem Tod übertrug Schweitzer die Spitalverwaltung seiner Tochter Rhena, die ärztliche Leitung Dr. Walter Munz. In den 70er Jahren wurde eine weitere Vergrößerung und Modernisierung des Spitals notwendig, auch fehlte es an Ärzten. Die drohende Schließung des Krankenhausbetriebs wegen Geldmangel konnte 1975 gerade noch verhindert werden. Mit Unterstützung des Staates Gabun wurde schließlich eine völlig neue Klinik erbaut, die dem modernen europäischen Standard entspricht. Sie wird heute von einer internationalen Trägerstiftung geleitet und anteilig von Spendengeldern, unter anderem auch des Deutschen Hilfsvereins in Frankfurt am Main, und dem Staat Gabun unterhalten.

„Der Zustrom unserer Patienten nimmt ständig zu“

Auch die 30er Jahre standen ganz im Zeichen notwendiger Spitalerweiterungen. Im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) konnte die Krankenversorgung mit Geld- und Medikamentenspenden aus Amerika und England notdürftig aufrecht erhalten werden. In den 50er Jahren errichtete Schweitzer mit Unterstützung des Friedensnobelpreises ein neues Lepradorf aus dauerhaften Gebäuden, das zweihunderfünfzig Patienten beherbergen konnte. Rhena Schweitzer berichtete über die Spitalentwicklung 1960/1961: „Von Jahr zu Jahr habe ich im Urwaldspital in Lambarene die Zahl der Patienten zunehmen sehen, aber im Jahr 1961 war die Zunahme besonders groß. (…) Den 192 Geburten des Jahres 1960 stehen 306 Geburten im Jahr 1961 gegenüber. Wurden vom 1. Juni 1959 bis 1. Juni 1960 450 Operationen ausgeführt, so sind es deren schon 712, die zwischen dem 1. Januar 1961 und dem 15. November 1961 stattfanden. Bis Ende des Jahres waren es mehr als 800. (…) Unsere Ärzte haben alle modernen Medikamente in ausreichenden Mengen zu ihrer Verfügung. Wir sind in der Lage, Infusionen und Bluttransfusionen zu geben. (…) Und dass Hilfe ‚vom Himmel’
kommt, darf man bei uns wörtlich auffassen. Ich habe es in 6 Monaten zweimal erlebt, dass gerade der Spezialist, der benötigt wurde, per Flugzeug eintraf.“

Lambarene einst und jetzt

„Es hätte meinem Vater gefallen …“

„Das Werk des Doktor Albert Schweitzer wird nicht sterben!“, so lautete die Erklärung der Regierung Gabuns am 17. Dezember 1975. Sie ebnete damit den Weg zu einem nochmals notwendigen
Spitalneubau, der am 17. Januar 1981 eingeweiht wurde.
Rhena Schweitzer wusste das neue Spital entsprechend zu würdigen: „Was hätte [mein Vater]… von dieser großen Halle, von diesem neuen Operationskomplex, von diesen neuen Laboratorien, von der neuen Röntgenanlage, den neuen Sprechzimmern und Behandlungsräumen gesagt? Zuerst hätte er, der ein leidenschaftlicher und genialer Bauherr war, die sinnvollen Gebäude bewundert.
Es hätte ihn gefreut zu sehen, dass man sich … an seine Grundsätze bei der Ost-West Orientierung der Gebäude sowie bei der doppelten Decke gehalten hat, um sich auf natürliche Weise gegen die Tropenhitze zu schützen und … (er) würde sich freuen, dass man sich in den neuen Gebäuden … an das Grundprinzip, die Einheit der Familien nicht zu zerreissen, gehalten hat.“

 Das Albert-Schweitzer-Spital heute

Das Lambarene-Spital präsentiert sich seit den 90-er Jahren als hochmoderne Poliklinik mit eigenem Forschungslabor, mit Kindergarten und Grundschule, Trinkwasseraufbereitung und Abwasserentsorgung.
Es werden jährlich zwischen 25.000 und 30.000 Patienten ambulant behandelt, davon etwa ein Drittel durch die vom Spital betreuten Buschambulanzen. Etwa 6.000 Patienten werden jährlich stationär aufgenommen, am häufigsten wegen Malaria und anderer Infektionskrankheiten sowie wegen Herz-Kreislauf- Erkrankungen; hervorzuheben ist die steigende Zahl der Einweisungen wegen Tuberkulose und vor allem Aids.
Bei den chirurgischen Eingriffen (ca. 1.800) sind Unfälle am häufigsten, gefolgt von Eingeweidebrüchen (Hernien). Besonderen Erfolg verzeichnet das mit deutscher Hilfe gestartete Aids-Präventions-Programm, durch das die Aidsübertragung von der Mutter auf das Kind verhindert wird. 

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Albert Schweitzer Wegbereiter für eine lebenswerte Zukunft

Albert Schweitzers Denken und Handeln machen ihn zu einer herausragenden Persönlichkeit, die als Wegbereiter für eine lebenswerte, gerechte und humanistisch geprägte Zukunft gilt. Seine Relevanz lässt sich auf mehreren Ebenen beleuchten:

1. Ethisches Grundprinzip: „Ehrfurcht vor dem Leben“

Schweitzers zentraler Gedanke, die Ehrfurcht vor dem Leben , fordert Respekt und Verantwortung für alles Lebendige. Erklärtermaßen heißt das: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. >>> weitere Info: DASZ-AS-wissenswert-2017 . Dieses Prinzip geht über traditionelle anthropozentrische Ethiken hinaus und umfasst alle Lebewesen, unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen. Schweitzers Ansatz kann als Grundlage für einen ökologischen Humanismus dienen, der:

Nachhaltigkeit und Umweltschutz in den Fokus rückt: Die globale Klimakrise und das Artensterben machen Schweitzers Einsicht, dass das Überleben der Menschheit von der Achtung gegenüber der Natur abhängt, aktueller denn je.
Interkulturellen Respekt fördert: Seine Ethik verbindet unterschiedliche religiöse und kulturelle Traditionen, die auf universellen Werten wie Mitgefühl und Solidarität basieren.
 
2. Praktisches Engagement für Gerechtigkeit

Schweitzers Lebenswerk, insbesondere die Gründung des Krankenhauses in Lambaréné (Gabun), zeigt, wie humanistisches Denken in konkretes Handeln umgesetzt werden kann:

Hilfe zur Selbsthilfe: Statt bloßer Wohltätigkeit schuf er Strukturen, die langfristig befähigten Menschen, ihr Leben selbst zu verbessern.
Kampf gegen Ungerechtigkeit: Schweitzer war ein scharfer Kritiker kolonialer Ausbeutung und der Missachtung der Würde afrikanischer Völker. Seine Arbeit erinnert daran, dass globale Gerechtigkeit eine zentrale Aufgabe der Menschheit bleibt.
 
3. Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Spiritualität

Schweitzer verkörperte eine ganzheitliche Bildung, die Wissenschaft, Kunst, Ethik und Ästhetik vereint:

Wissenschaftlicher Fortschritt mit Verantwortung: Als Arzt verband er technische Expertise mit Mitgefühl und Gemeinwohlorientierung, ein Modell für die heutige Medizin und Forschung.
Musikalische und spirituelle Inspiration: Schweitzer war ein herausragender Organist und Bach-Forscher. Seine Musik öffnet Zugänge zu transzendenten Erfahrungen, die viele Menschen motivieren können, sich für höhere Werte einzusetzen.
 
4. Ein Mahner für den Frieden

Schweitzer war ein entschiedener Pazifist. Seine Warnung vor jeder Waffengewalt und vor nuklearer Aufrüstung, außerdem seine Suche nach Völkerverständigung sind Vorbilder für den Einsatz gegen moderne Bedrohungen wie Kriege, Gewalt jeder Art, Extremismus und soziale Spaltung.

5. Aktualität in der Gegenwart

Schweitzers Visionen sind im 21. Jahrhundert hochaktuell, weil:

Die ökologische Krise forderte neue Denkweisen und ethische Konzepte, die Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ vorwegnahm.
Globalisierung und Ungleichheit menschlicher Antworten erfordern, die universelle Werte und Solidarität betonen.
Technologische Fortschritte wie Künstliche Intelligenz nur im Rahmen eines ethischen Diskurses sinnvoll gestaltet werden können, den Schweitzer anregt.
 
Fazit
Albert Schweitzer kann als Wegbereiter für eine gerechte und humanistische Zukunft gelten, weil er universelle Werte wie Mitmenschlichkeit, Respekt, Achtsamkeit und Ehrfurcht vor allem Leben, dies in Verbindung von Denken und Handeln gelehrt und gelebt hat. Seine Ethik fordert uns heraus, individuelle Verantwortung zu übernehmen, um eine nachhaltige, gerechte und friedliche Welt zu gestalten. Seine Ideen sind nicht nur moralische Appelle, sondern konkrete Handlungsanweisungen, die auch in der heutigen Zeit Orientierung dies auch im politischen Sinne bieten.

Quelle: Diese Texte sind (vor allem am Anfang) selbst verfasst, stammen aber grossmehrheitlich aus Artikeln im Kirchenboten und von den Schautafeln der Albert Schweitzer Ausstellung.