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Interview Rüdiger Maas
Ziemlich lesenswert heute in der NZZ am Sonntag! Kann man natürlich kontrovers diskutieren….aber sehr spannend.
Quelle: NZZaS 14.11.2021
«Eine Generation von schwachen Menschen»
Heutige Kinder würden später grosse Probleme haben, sich im Leben zurechtzufinden, sagt der Generationenforscher Rüdiger Maas. Das liege an der Digitalisierung, aber auch an der fehlgeleiteten Erziehung durch ihre Eltern. Interview: Michael Furger
Herr Maas, sind die heutigen Kinder glücklich?
Rüdiger Maas: Verglichen mit den älteren Generationen waren Kinder noch nie so unglücklich wie heute.
Wie kommen Sie darauf?
Ich bin selbst Vater von zwei Kindern. Hätte ich es nicht wissenschaftlich untersucht, hätte ich es nicht bemerkt. Ich sehe ja auch meine Kinder lachen oder weinen, aber ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten zu früher. In unseren Studien stützen wir uns auf die Aussagen von über tausend pädagogischen Fachkräften. Und die sagen: Hier ändert sich gerade was.
Was ändert sich?
Die Kinder können heute weniger vertieft spielen und dürfen weniger Kind sein, als es noch vor fünf oder zehn Jahren der Fall war. Ihre Frustrationstoleranz sinkt, sie haben mehr Probleme, Konflikte zu lösen. Und diese Analysen decken sich mit den Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation WHO, der Unicef und des Deutschen Kinderhilfswerks, die vermehrt depressive Symptome und andere Probleme bei Kindern feststellen.
Wo haben unsere Kinder ihr Glück verloren?
Irgendwo zwischen einer neuen Generation von Eltern, der Digitalisierung, einem Wohlstand, der kein Limit mehr kennt – und Corona. Die Pandemie war zwar kein Verursacher, aber sie hat die Entwicklung beschleunigt.
Beginnen wir von vorne. Wen meinen Sie, wenn Sie von einer neuen Elterngeneration sprechen?
Die Generation Y, also die sogenannten Millennials. Sie sind nun zwischen 30 und 40 Jahre alt und haben Kinder bekommen. Sie sind nicht nur in einem beispiellosen Wohlstand aufgewachsen, sondern sind auch die erste Elterngeneration, die mit dem Computer gross geworden ist und schon in ihrer Jugend googelte, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Nahezu alles, was noch bei anderen Generationen das Bauchgefühl entschieden hat, kann nun Google beantworten. Die Generation Y hält sich auch mehr als andere in Online-Diskussionsforen auf.
Welchen Einfluss hat das auf die Erziehung?
Die eigene Intuition sowie die Qualität von Erfahrungswissen, das beispielsweise früher die eigenen Eltern ihren schwangeren Töchtern mitgaben, zählt nicht mehr in dem Masse, wie es für die letzten Elterngenerationen gezählt hat. Man kann ja alles aus dem Netz ziehen. Das wird dadurch verstärkt, dass die Erstgebärenden immer älter werden. Mit steigendem Alter werden wir risikoscheuer. Damit steigt das Bedürfnis, sich immer aufwendiger zu informieren.
Und was bedeutet das für die Kinder dieser Generation?
Sie werden von Eltern grossgezogen, die so unsicher sind wie keine andere Generation vor ihr, die sich ständig mit anderen vergleicht. Das führt zu ein paar bedenklichen Entwicklungen.
Welchen?
Diese Elterngeneration nimmt ihre Kinder nicht als Kinder wahr, sondern als beste Freunde. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit läuft das Küken nicht hinter der Ente her, sondern die Ente hinter dem Küken. Das hat natürlich viel mit der Digitalisierung zu tun. Nicht mehr die Eltern wissen Bescheid, sondern ihre Nachkommen. Heutige Väter und Mütter bewundern ihre Kinder oft so sehr, dass es zu einem Art Rollentausch in der Eltern-Kind-Beziehung kommt. Wir haben eine Generation von Eltern, welche die grössten Fans ihrer Kindern sind.
Was ist schlimm daran, wenn man seine Kinder toll findet?
Nichts. Doch der Rollentausch führt dazu, dass die Kinder bestimmen, wo es langgeht. Aus Unsicherheit nehmen Eltern schon ein zweijähriges Kind so ernst, dass es mitentscheiden darf, was es anzieht, wo es heute hingeht, wie das Kinderzimmer ausschaut. Viele geben zu, dass sie Konflikte mit ihren Kindern scheuen und keine klaren Grenzen mehr setzen. Sie verlieren sich in ihrer Rolle und sind keine Abgrenzungssubjekte mehr. Das nimmt zum Teil bizarre Formen an.
Zum Beispiel?
Da werden von den Kindern auch Trends übernommen. Eltern finden die gleichen Musiker cool wie die Kinder und tragen die gleiche Mode. Überlegen Sie mal, wie das in den achtziger Jahren war. Heavy Metal war für unsere Mütter und Väter ein Graus – und wenn nicht, dann waren es komische Eltern. Aus unseren Befragungen geht auch hervor, dass viele Eltern traurig sind, wenn ihre Kinder beginnen, Geheimnisse vor ihnen zu haben, und Gleichaltrige zu besten Freunden werden. Kinder scheinen für sie zu einer Art Freundes- oder Partnerersatz zu werden. Das ist nicht normal. Wir müssen unseren Kindern Eltern sein. Ein Kind kann viele Fans und Freunde haben. Aber es hat nur einen Vater und eine Mutter.
Was macht das mit den Kindern, wenn sie sich nicht mehr abgrenzen können?
Sie gewöhnen sich daran, dass sie bestimmen dürfen, wo es langgeht, und finden es seltsam, wenn der Lehrer oder später der Arbeitgeber das nicht akzeptiert. Wenn Eltern nicht mehr wissen, wie man Nein sagt, kann sich keine Frustrationstoleranz und keine Resilienz herausbilden, also keine psychische Widerstandsfähigkeit. Man lernt nicht, mit Kritik umzugehen und Konflikte auszutragen. Das sehen wir übrigens schon bei ganz Kleinen. Erzieher sagen uns, dass die Fähigkeit, unter Gleichaltrigen Konflikte zu lösen, nachgelassen hat, weil die Eltern immer sofort für ihre Kinder schlichten.
Moment, soll man sich denn nicht für seine Kinder einsetzen?
Natürlich. Aber Kinder müssen auch selbst negative Erfahrungen machen. Es gehört halt zum Leben, etwas zu bewältigen, ohne dass die Eltern zwei Meter daneben sitzen. Es geht darum, Empathie zu trainieren, Mimik und Gestik zu interpretieren und eigene Regeln auszuhandeln. Diese grundlegenden Dinge haben Kinder zuvor beim gemeinsamen Spielen gelernt. Wir stellen eine steigende Angst vieler Eltern fest, ihre Kinder allein draussen spielen zu lassen. Mit der Überprotektionierung hat allerdings schon die Vorgängergeneration begonnen. Laut unserer Studie ist bereits heute in Deutschland jedes siebte Kind total überbehütet. Ich gehe davon aus, dass es in der Schweiz ähnlich ist. Wir hören von Eltern, die junge Erwachsene zum Mitarbeitergespräch in die Firma begleiten oder zur Vorlesung an der Universität. Diese Fixierung führt heute übrigens noch zu einem ganz neuen Phänomen, dem Sharenting.
Wie bitte?
Sharenting – ein Begriff, zusammengesetzt aus dem englischen sharing für «teilen» und parenting für «erziehen». Es meint den Vorgang, wenn Eltern permanent Bilder oder Informationen über ihre Kinder im Internet teilen. Ein Phänomen, das mit der Elterngeneration der Millennials aufgetaucht ist. Sie sind mit sozialen Netzwerken erwachsen geworden. Kinder haben natürlich keine Entscheidungsgewalt darüber, ob sie und die mit ihnen verbundenen Situationen im Netz abgebildet werden. Entscheidend ist aber etwas anderes: Das Handy wird so mit einem Belohnungssystem assoziiert.
Inwiefern?
Wenn jeder positive, lustige oder nur alltägliche Moment abfotografiert wird, werden schon Kleinkinder darauf trainiert, dass ein Handyfoto eine Art Belohnung ist. Wenn ich etwas gut mache, macht Mama oder Papa ein Foto. Machen sie mal keines, heisst das für das Kind: Oh, das war anscheinend nicht gut genug. Jede Art von Feedback wird schon in den ersten Jahren assoziiert mit dem Smartphone. Man lernt, sich so zu verhalten, dass es ein Foto gibt.
Im Fotoalbum meiner Kindheit kleben auch nur Bilder von positiven Momenten.
Aber wenn Sie Ihr Kinderalbum anschauen, finden Sie vielleicht fünf Fotos von einem Ereignis. Man hatte die Kamera ja auch nicht ständig dabei. Heute machen wir Tausende von Bildern und bescheren unseren Kindern eine lückenlose Dokumentation ihrer Kindheit, aber einseitig positiv gefärbt. Wenn die Kinder das später anschauen, haben sie ein völlig falsches Bild ihrer Vergangenheit.
Das Bild setzt sich ja nicht nur aus Fotos zusammen, sondern auch aus Erinnerungen.
Das stimmt. Wenn man sich an Vergangenes nicht mehr genau erinnern kann, greifen wir auf das zurück, was wir in der Psychologie «fabulieren» nennen. Wir schaffen unsere Erinnerungen mithilfe der Phantasie. Das haben wir Älteren getan, weil es aus unserer Kindheit wenig Bilder gibt. Bei den heutigen Kindern ist das nicht mehr nötig, weil ihre Eltern alles minuziös dokumentiert haben. Ihnen wird damit die Möglichkeit genommen, zu fabulieren, das heisst, ihre Phantasie zu trainieren.
Sie zeichnen ein ziemlich düsteres Bild der Digitalisierung.
Ich will die Digitalisierung um Gottes willen nicht verteufeln. Sie bietet viele Vorteile, aber sie ist noch nicht für die Kinder gemacht. Wir wissen aus Studien, dass die hektischen Szenen, mit denen Kinder bei ihrem digitalen Konsum konfrontiert sind, also die vielen Bildwechsel und emotional aufregen-de Formate, negative Folgen für noch nicht ausgereifte Regionen des Gehirns haben können. Das könnte sich in der Entwicklung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit niederschlagen. Kinder werden um die Chance gebracht, Dinge bewusster zu erleben. Viele kennen sich in der analogen Welt schon gar nicht mehr richtig aus. Es gibt Beispiele von Kindern, die vor einem Aquarium stehen und mit den Fingern an der Scheibe versuchen, die Fische zu vergrössern.
Dass Kinder heute Dinge nicht mehr bewusst erleben, hat kaum nur mit der Digitalisierung zu tun.
Das stimmt. Wir sehen heute eine permanente Bespassung unserer Kinder mit allen möglichen Unternehmungen. Die können das gar nicht mehr verarbeiten.
Soll man mit Kindern also nichts mehr unternehmen?
Natürlich soll man das. Machen Sie mit ihnen einen Ausflug. Das Problem sind die Dauerbefeuerung und der ständige Aktionswechsel. Vormittags in den Freizeitpark, nachmittags in den Zoo, abends ins Kino. Kinder können auf diese Weise gar kein Erfahrungswissen aufbauen oder intellektuell reifen. Pädagogen haben in unserer Studie berichtet, dass dieses permanente Bespassen und Unterhalten dazu führt, dass Kinder weniger gut zuhören können, wenn man ihnen eine Geschichte vorliest. Sie wollen immer zusätzlich unterhalten und bespielt werden. Sie entwickeln weniger aus sich selbst heraus.
Was hat das für Folgen?
Sie erwarten, dass vieles an sie herangetragen wird. Die intrinsische Motivation, also die Motivation aus sich selbst heraus, wird zurückgehen. Es wird wahrscheinlich auch dazu führen, dass der Mainstream immer breiter wird, weil sich niemand mehr von anderen abgrenzen will. Bewertungssysteme und Influencer geben mir vor, was gut zu sein scheint. Das heisst auch, dass die Kraft nachlässt, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich damit zu exponieren.
Weil man sich der Empörung in den sozialen Netzwerken nicht aussetzen will.
Genau. Man verhält sich im Internet immer passiver. Die meisten Online-Kommentare, die Sie heute finden, kommen von älteren Menschen. Schauen Sie sich einmal die Kommentare bei Youtube an. Sie stammen alle von Leuten über vierzig.
Die neue Generation wird also dazu erzogen, nicht mehr aufzufallen.
Man will in der Masse verschwinden und hat eine geringere Ambiguitätstoleranz. Das heisst, dass die Menschen weniger in der Lage sind, zwei verschiedene Meinungen zu akzeptieren. Wenn der Mainstream breiter wird, werden die Positionen links und rechts davon viel weniger akzeptiert. Früher gab es mehr Subkulturen und Gegenbewegungen. Das haben wir heute nicht mehr. Gibt es in der Jugend eine Anti-Friday-for-Future-Bewegung? Ich glaube nicht. Der Mainstream ist für die Klimabewegung. Wer nicht mitmacht, wird nicht akzeptiert.
War das früher wirklich besser?
Damals wollte man als junger Mensch alles sein, nur nicht Masse. Heute ist es genau umgekehrt. Wenn ich nicht Masse bin, habe ich es viel schwieriger.
Was wird aus diesen Kindern, wenn sie erwachsen werden?
Eine Generation von schwachen Menschen, die im Alltag Schwierigkeiten haben, weil sie nicht mit Frustration umgehen können und bei Kritik zusammenbrechen. Die ängstlicher sind und mehr Strukturen brauchen. Die sich schnell langweilen und daran gewöhnt sind, dass vieles geliefert wird. Die eine Anspruchshaltung haben wie keine andere Generation vor ihr. Die unverbindlich sind, weil sie ständig für sich das Beste heraussuchen und ihre Wahl jederzeit ändern können. Ich spreche von der «Generation lebensunfähig» und frage mich: Was wird aus einer Gesellschaft, die lauter Prinzessinnen und Prinzen hervorbringt? Wenn alle gewohnt sind, bedient zu werden, wer bedient dann noch? In einer solchen Welt werden jene Kinder später erfolgreich sein, die weniger überbehütet und verwöhnt aufwachsen und eine intrinsische Motivation entwickeln. Sie haben das grössere Durchhaltevermögen und eine höhere Resilienz bei Niederlagen. Das werden aber immer weniger werden.
Wieso?
Weil sich all die Faktoren, die das überbehütende Verhalten der Eltern fördern, noch verstärken werden: die Erziehung auf Augenhöhe, der Einfluss des Internets, die Optionsvielfalt, der Zwang des Kollektivs.
Hat das etwas mit der sozialen Schicht zu tun?
Nein, unsere Studien haben allerdings ergeben, dass Kinder von Flüchtlingen bezogen auf Sozialverhalten und Selbständigkeit in ihrer Entwicklung viel weiter sind als gleichaltrige deutsche Kinder. Überbehütung scheint kein weltweites Phänomen zu sein.
Etwas geht für mich nicht auf. Sie sprechen von Überbehütung, und gleichzeitig lesen wir, wie Jugendliche üble Inhalte im Internet konsumieren, ohne dass die Eltern es merken. Sie werden im Netz gemobbt, zu Magersucht verleitet, sehen sich Pornos und Brutalität an. Wie ist das möglich, wenn doch die Eltern angeblich so fixiert auf ihre Kinder sind?
Das ist tatsächlich paradox. Die Überbehütung findet nur in der analogen Welt statt. In der digitalen Welt lassen sie die Kinder völlig allein. Alles, womit diese dort konfrontiert werden, müssen sie selbst verarbeiten. Aber auch die Jugendlichen verhalten sich in der digitalen Welt anders. Sie wollen dort keine Grenzen, in der analogen schon. Daraus entstehen Widersprüche: Sie gehen an die Klimademo, folgen aber einem Influencer, der die ganze Zeit nach Dubai jettet. Das ist für uns total widersinnig. Der Fehler von uns Erwachsenen ist, dass wir diese Widersprüchlichkeit nicht akzeptieren. Wir beurteilen Kinder wie Erwachsene und erwarten Reflexion, weil sie uns ja etwas vorwerfen und vorschreiben. Aber wir vergessen, dass es noch Kinder sind, die auch widersprüchlich und unreflektiert sein dürfen.
Warum lassen wir die Kinder im Netz allein?
Weil die Probleme dort für die meisten Eltern ausserhalb ihrer analogen Denkmuster liegen. Die meisten Millennials hatten ja noch eine analoge Kindheit. Der Internetboom begann in ihrer Jugend. Sie sind sich gar nicht bewusst, was da auf die Kinder einwirkt. Was es bedeutet, wenn ich weniger Likes und Follower habe auf Instagram als meine Freunde. Was es heisst, zwar täglich 400 Nachrichten zu lesen, aber dennoch das Gefühl zu haben, ständig etwas zu verpassen. Und wie daraus Angststörungen und Depressionen entstehen können.
Was sollen Eltern tun, um ihre Kinder fit für die Zukunft zu machen?
Geduld haben und dem Alter entsprechend auf das Kind eingehen. Ich muss mit einem Zweijährigen nicht wie mit einem Erwachsenen sprechen. Eltern sollen auf ihr Bauchgefühl hören, Nein sagen und sich weniger dem gesellschaftlichen Druck unterwerfen. Und sich auch mal fragen: Wie war das denn, als wir Kinder waren? Wir durften doch auch bestimmte Sachen alleine machen. Sie sollen den Kindern eine Chance geben, Kinder zu sein, ihnen Rückzugsräume geben. Und besonders wichtig: Eltern sollen Eltern sein und sich von den Kindern abgrenzen. Sie werden uns immer lieben, auch wenn wir einmal Nein sagen.
Und in Bezug auf die digitale Welt?
Die Kinder nicht zu früh allein im Internet lassen, sondern gemeinsam ins Netz gehen und versuchen, einen Dialog aufzubauen, um sicherzustellen, dass sie mit ihren Eltern sprechen, wenn sie verstörende Inhalte sehen. Väter und Mütter sollen wissen, was ihre Kinder im Internet machen, und die digitale Welt kennen, in der sie sich bewegen.