Aktuelles / Notizen
Pichard-Amsler zum LP21
Fortschritt oder Reformeifer? Streit um den Lehrplan 21 (NZZ Bildungsbeilage 24. November 2016)
Kompetenzorientierung, internationale Bildungsstandards und Schweizer Harmonisierungsbestrebungen: Der Lehrplan 21 polarisiert. Christian Amsler und Alain Pichard kreuzen die Klingen.
«Stringente Weiterführung der kantonalen Lehrpläne»: Christian Amsler, Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren. Bild: Dominic Steinmann / NZZ)
Es gibt kaum etwas Reglementierteres als ein Schulhaus – von «Respekt»-Plakaten und Flüsterzonen bis zu Strafenkatalogen. Warum, Herr Pichard, passt der dicke Lehrplan 21 trotzdem nicht dazu?
Alain Pichard: Das mag eine Zürcher Realität beschreiben, bei uns in Bern hat man die bürokratischen Übertreibungen stark zurückgefahren. Ich kenne die Zürcher Reglementierungswut aber von meinen Grosskindern. Die dürfen nicht einmal einen Schokoladenkuchen in die Schule mitbringen an ihrem Geburtstag.
Christian Amsler: Auch ich habe mit solchen Regeln Mühe, aber insgesamt erlebe ich die Schule anders – voller Buntheit und Kreativität, mit viel pädagogischer Freiheit. Kürzlich besuchte ich eine Oberstufenklasse. An der Wand des Klassenzimmers hing ein einzelner Satz: «Es ist alles erlaubt, was vernünftig ist.» Eine Schülerin erklärte mir, es handle sich dabei um ihre gemeinsam erarbeitete Klassenregel. Wunderbar! Dieses Einüben demokratischer Verfahren ist Teil der Vorbereitung auf das Leben. Viele Lehrkräfte pflegen es mit grossem Engagement. Regulierungswut ist etwas anderes!
Stellt sich der Lehrplan 21 Schule so vor?
Pichard: Mit dem Lehrplan 21 hat das wenig zu tun. Bei diesem handelt es sich entgegen anderslautenden Aussagen um eine Schulreform. Mit der Kompetenzorientierung liegt ihm ein weltweit kontrovers diskutiertes Konzept zugrunde. Zudem schreibt er den frühen Fremdsprachenunterricht mit Beginn in der dritten und fünften Klasse fest. Und schliesslich ist er das Produkt einer Allianz von Verwaltung, Politik und Wissenschaft, die sich von der Praxis entfernt hat und unbedingt die Bildungsagenda der OECD durchziehen will. Das Fuder ist derart überladen worden, dass man sich vom Ziel, der Harmonisierung der kantonalen Volksschulen, verabschiedet hat.
Kann man also nicht mehr von einem Harmonisierungsprojekt sprechen?
Pichard: Die Kantone der Romandie haben nach 2006 einen gemeinsamen Lehrplan ohne konsequente Kompetenzorientierung und ohne Sammelfächer geschaffen. Erreicht wurde der gleichzeitige Beginn des Fremdsprachenunterrichts und gleiche Stundentafeln in der ganzen Sprachregion, also eine weitgehende, problemlose Harmonisierung. Und was ist in der Deutschschweiz herausgekommen? Wir haben ein Riesenchaos bei den Fremdsprachen, eine Seldwylerei erster Güte. Dazu kommen diverse Alleingänge: Baselland führt die Sammelfächer nicht ein, die Stundentafeln ändern von Kanton zu Kanton. Wir haben punkto Harmonisierung einen Rückschritt gemacht und erst noch den Sprachenfrieden gefährdet.
Damit liegt die Kritik auf dem Tisch, Herr Amsler.
Amsler: Ich werde mich hüten, nun in die Defensive zu gehen und jeden Vorwurf von Herrn Pichard zu entkräften. Ich akzeptiere seine Meinung, die meiner eigenen diametral gegenübersteht. Der Lehrplan 21 ist etwas Einmaliges. Trotz kantonaler Bildungshoheit haben sich die 21 deutschsprachigen Kantone zusammengetan und in guteidgenössischer Tradition den Harmonisierungsauftrag der Bundesverfassung umgesetzt sowie die Inhalte der Schule neu definiert. Auf das Ergebnis bin ich stolz. Der Lehrplan 21 ist eine gute Sache für die moderne Volksschule.
Aber es ist schon so, dass die kantonalen Volksinitiativen und Vorstösse zum Lehrplan und zum Fremdsprachenunterricht die Harmonisierung torpedieren können.
Amsler: Ich habe alles andere als Freude am Sprachenstreit. Der Lehrplan 21 sagt aber gar nichts zu den Fremdsprachen. Dafür ist die gesamtschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) zuständig. Wir haben einfach den 2004 vereinbarten Kompromiss mit dem Fremdsprachenunterricht in der Primarschule im Lehrplan abgebildet. Die Sprachenfrage ist in unserem vielsprachigen Land eine grosse Herausforderung. Wir haben bezüglich Koordination viel erreicht. Dass die Ost- und die Zentralschweiz eine andere Reihenfolge gewählt haben als die Nordwestschweiz, ist zu akzeptieren, auch wenn dadurch beim Umzug von St. Gallen nach Bern ein Problem entstehen kann.
Stichwort Gleichmacherei in einem vielfältigen Land: Ist man im Lehrplan 21 – ausser in der Sprachenfrage – zu weit gegangen?
Pichard: Die Sprachenfrage ist für mich zentral. Die EDK hat beim Entscheid für den frühen Fremdsprachenunterricht einen fatalen Fehler gemacht. Wollte sie, dass die Schüler besser Französisch oder Englisch können? Oder ist man einfach dem Wunsch der Eltern gefolgt? Eine Antwort darauf haben wir Lehrer nie erhalten, aber Studien belegen, dass der frühe Sprachunterricht keine langfristigen Effekte hat. Amsler: Das hängt von den Studien ab, die man beizieht. Pichard: Diejenige von Simone Pfenninger belegt meine Aussage klar. Sie wird nun von der EDK schlechtgeredet. Zeigen Sie mir eine Studie, die Vorteile der Frühfremdsprachen belegen kann! Ich kenne keine. Man hat dafür – ohne vorherige Prüfung – sehr viel Geld ausgegeben und dabei ein Problem ausgeblendet, das die Schulen wirklich fordert: den Illettrismus. 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen können im teuersten Schulsystem der Welt nach neun Schuljahren nicht richtig lesen und schreiben. Hier wäre die Priorität zu setzen gewesen.
Amsler: Es war tatsächlich ein politischer Entscheid. Er ging aber nicht von den Erziehungsdirektoren aus. Und er hat mit dem Thema Lehrplan 21 herzlich wenig zu tun. Trotzdem: Wir Erziehungsdirektoren sind strikte gegen all die laufenden Versuche, das geltende System mit kantonalen Volksinitiativen kurzfristig und lokal wieder zu ändern. Zurzeit wird dazu ein Krieg der Wissenschaften inszeniert. Uns ist es wichtig, vorerst Ruhe in die Sache zu bringen, um dann aufgrund von heute tatsächlich noch fehlenden Wirksamkeitsstudien eine gemeinsame Lösung zu finden. Jetzt den Schalter wieder umzulegen, ist schlicht und einfach verfrüht. Bei meinen monatlichen Schulbesuchen sehe ich hervorragenden Sprachunterricht und Kinder, die zum grössten Teil mit Freude dabei sind.
Pichard: Auf dem Hintergrund der laufenden Sparprogramme muss man den Mitteleinsatz in den Schulen aber schon kritisch hinterfragen. Die sechs auf «Passepartout» setzenden Kantone haben bis anhin rund 100 Millionen Franken in das Frühfranzösisch-Projekt gesteckt. «Passepartout» ist das teuerste Lehrmittel, das es je gegeben hat – mit einer völlig neuen, nirgends ausgetesteten, untauglichen Sprachdidaktik.
Aber ursprünglich hat sich der Streit um den Lehrplan 21 ja nicht an der Sprachenfrage entzündet, sondern an der Abkehr von den Lernzielen hin zum kompetenzorientierten Lernen. Was stört Sie so stark? Der von Ihnen gelobte welsche Lehrplan ist ja auch kompetenzorientiert.
Pichard: Im welschen Lehrplan hat es zwar Kompetenzen, aber die Inhalte und Themen werden ihnen nicht unterstellt. Der Lehrplan 21 wäre in der Romandie nie mehrheitsfähig, sagt der Genfer Lehrplanexperte Bernard Schneuwly. Er hält ihn gar für eine Katastrophe, was ich selber nicht so sehe. Uns hat das für den Lehrplan 21 verantwortliche Gremium die Kompetenzorientierung einfach untergejubelt – ohne Not. Ich hätte einen ähnlichen Lehrplan wie den der Romandie vorgelegt und dann den Praktikern erklärt, man wolle noch weiter Richtung Vergleichbarkeit und Monitoring gehen. Dafür brauche es Standards und Tests. Hätte man das ausdiskutiert und einen Konsens erreicht, so wäre wenig einzuwenden gewesen.
Amsler: Sie werfen uns Mauschelei und Hinterzimmerpolitik vor. Ich kenne kein anderes Projekt in der Schweiz und insbesondere im Bildungswesen, das derart breit und sorgfältig über Jahre erarbeitet worden ist. 21 Kantone mit 21 Bildungsdirektoren verschiedenster politischer Couleur waren daran beteiligt, und alle standen hinter dem Vorgehen und dem Ergebnis. Ich habe den ganzen Prozess, den ich als Vorsitzender der Steuergruppe leitete, eins zu eins erlebt und gesehen, wie intensiv Pädagogen der Hochschulen, Fachdidaktiker und Lehrpersonen daran gearbeitet haben.
Und was erwidern Sie auf die Kritik an den Kompetenzen?
Amsler: Der Lehrplan ist konsequent kompetenzorientiert formuliert, aber nicht so weit vom Plan d'études romand entfernt, wie Herr Pichard uns weismachen will. Wir haben zudem immer betont, dass das Wissen die Basis des Ganzen bleibt. Es ist doch klar, dass ich zuerst etwas in meinen Bildungsrucksack packen muss, bevor ich es anwenden kann. Es braucht das Wissen, das Können und das Wollen. Guter Unterricht muss die Kinder auch motivieren, etwas zu lernen. Nur die Verbindung aller drei Komponenten führt zu gutem Lernen. Und genau das greift der Lehrplan 21 auf.
Pichard: Ich gehöre sicher nicht zu den Leuten, die der alten Schule des Auswendiglernens nachtrauern. Ich glaube einfach nicht an Masterpläne. Schulen müssen sich selber entwickeln können, sie müssen sich selber reformieren, sich vernetzen und voneinander lernen. Ich habe den Autoren des Lehrplans nie vorgeworfen, sie würden das Wissen vernachlässigen. Meine Kritik betrifft etwas anderes: Der traditionelle Lehrplan setzte Themen und Inhalte fest und enthielt durchaus auch Könnenserwartungen. Er war für uns Lehrer die Lizenz zum Unterrichten. Gestützt darauf haben wir die Kompetenzen formuliert und eingefordert. Je nach Klasse wählten wir die geeignete Methode. Mit dem neuen Lehrplan wird die Sache von hinten aufgegabelt. Es werden uns Kompetenzen vorgegeben, und es ist egal, ob man das Textverständnis an einer Staubsauger-Anleitung oder an einem Goethe-Text übt. Es geht nur um die Fähigkeit zur Anwendung. Das aber ist eine Doktrin aus der Wirtschaft.
Sie verstehen den Lehrplan also als direkte Anleitung zum Unterrichten. Ist er das überhaupt?
Amsler: Nein, er gibt gemäss Harmonisierungsauftrag den Inhalt des Schulunterrichts vor. Wir haben immer das Bild vom Kompass verwendet. Über den konkreten Unterricht wird vielmehr bei der Gestaltung der Lehrmittel entschieden. Diese sind matchentscheidend. Noch wichtiger – das wissen Sie, Herr Pichard, am allerbesten – sind die Lehrerinnen und Lehrer. Ich traue ihnen sehr wohl zu, selber zu entscheiden, wie sie das, was inhaltlich zu den Kompetenzen im Lehrplan steht, im Unterricht konkret umsetzen. Drangsaliert werden sie dabei vom Lehrplan nicht. Und natürlich haben das Gewerbe und die Wirtschaft gewisse Ansprüche. Das ist auch richtig so, wenn sie dafür hinter der Volksschule stehen. Diese bereitet auf einer sehr breiten Grundlage auf das Leben vor. Und das bildet der Lehrplan 21 ab. Pichard: Überall, wo die Kompetenzen eingeführt wurden, in Baden-Württemberg, in Hessen oder in Hamburg, erleben wir eine Flut von Lernstandserhebungen und Tests. Im Prinzip ist der Lehrplan 21 ein Pisa-Test-Buch! Ich will kein Katastrophenszenario malen, aber ich erwarte Ehrlichkeit. Als die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli den Lehrplan 21 vorstellte, nannte sie ihn ein «eindrückliches Pionierwerk und die grösste Erneuerung seit der Einführung der Schulpflicht». Kurz darauf sagten Sie im Fernsehen, Herr Amsler, es ändere sich gar nichts, es handle sich nicht um eine Schulreform. Was gilt jetzt? Ich werfe der Politik vor, dass sie einfach vorwärtsschreitet, ohne die zweifelnden Eltern und Lehrer anzuhören.
Bildung – Was lehrt die Schule
wbt. - In der Schweiz war und ist es Sache der Kantone, die Lerninhalte der Volksschule zu bestimmen. Es gibt viele Gründe dafür, im Grundsatz nicht daran zu rütteln. Die seit 2006 verfassungsmässig vorgegebene Harmonisierung der Schulen innerhalb der Sprachregionen gibt in der Deutschschweiz aber viel zu reden und zu streiten. Gegen den gemeinsamen Lehrplan 21 und dessen Konzept des kompetenzorientierten Unterrichts sind zahlreiche Volksinitiativen eingereicht worden.
Es gehört zu den anthropologischen Konstanten, dass Menschen Veränderungen nicht besonders mögen. Einen Aufschrei von Teilen der Lehrerschaft gibt es fast bei jeder Reform. Was ist denn eigentlich das Problem an den Standards?
Pichard: Dass sie den Unterricht verändern! Als junger Lehrer habe ich das selbst erlebt. Meine Realschüler hatten die Chance, ein zehntes Schuljahr zu absolvieren, das aber den besten vorbehalten war. Sie mussten eine Prüfung machen. Aus meiner Klasse fielen alle Prüflinge durch, bei meinem erfahrenen Kollegen bestanden vier von fünf – das Resultat eines halbjährigen Test-Drills. Drei Jahre später machte ich es auch so, und alle Angemeldeten bestanden.
Und nun sind Sie gegen Tests?
Pichard: Nicht grundsätzlich. Auch die Pisa-Studien der OECD sind nützlich. Sie zeigen aber lediglich kleine Teilbereiche auf und sicher nicht die Wahrheit! Klar ist nur: Mit dieser Angleichung an die internationalen Standards der OECD legen Politiker wie Sie, Herr Amsler, den roten Teppich aus für eine eigentliche Vermessungsindustrie, welche die Schule massiv verändern wird. Ich sträube mich nicht gegen Veränderungen. Wandel ist wichtig, gerade in der Schule. Aber die Frage darf doch erlaubt sein: weshalb die ganze Übung?
Amsler: Ich bin überhaupt nicht OECD-gläubig. Aber dass ein gewisser Wettbewerb im internationalen Umfeld spielt, ist doch klar. Die Schweiz kann in der Bildung keinen isolationistischen Kurs verfolgen. Wir wollen aber kein «teaching to the test», das haben wir immer betont. Ihre pädagogische Kapitulation vor dem neuen Lehrplan überrascht mich doch sehr, Herr Pichard. Alles Böse wird da hineinprojiziert. Aus der Lehrerschaft erhalte ich indes sehr viele positive Signale.
Pichard: Ich sage nur, die Politik hat zusammen mit Bildungsempirikern eine Lawine losgetreten, die nun unaufhaltsam auf uns zurollt und die Schule begraben könnte. Gehen Sie doch einmal ins Ausland, zum Beispiel nach Baden-Württemberg. Dann sehen Sie, was für negative Folgen überbordende Kompetenzorientierung und internationalisierte Tests haben. Die Schulen dort sind von einem Spitzenplatz innerhalb Deutschlands ins hintere Mittelfeld abgerutscht.
Amsler: In Baden-Württemberg spielen ganz andere Faktoren als ein neuer Lehrplan eine Rolle. Unser Bildungssystem ist weltweit Spitzenklasse. So viel machen wir also nicht falsch. Dennoch haben wir Reformbedarf: Wir leben in einer durch die Digitalisierung dramatisch veränderten Welt und dürfen den Anschluss nicht verpassen. Weshalb Sie den Lehrplan, den 21 Kantone gemeinsam mit Wissenschaftern und Praktikern ausgearbeitet haben, so negativ sehen, ist mir unverständlich. Es ist notabene eine stringente Weiterführung der kantonalen Lehrpläne, von denen viele in den kommenden Jahren ohnehin hätten ersetzt werden müssen. Pichard: Ich kritisiere nicht diese Zusammenarbeit zwischen den Kantonen! Was mich stört, ist der heilige Reformeifer, obwohl doch alle stets betonen, wie gut unser Bildungssystem ist. Noch einmal: weshalb diese teure Übung? Ich mache schon solche Tests, doch der Erkenntnisgewinn ist gleich null. Dafür verdienen viele Leute in der Bildungsindustrie daran. Das Gleiche gilt für die Lehrmittel. Es kommen immer mehr Lehrmittel auf den Markt, die mit dem Lehrplan 21 kompatibel und damit verpflichtend sind und uns Lehrern genau vorgeben, wie wir unterrichten und testen müssen. Das kostet und schränkt uns massiv ein. Amsler: Die Lehrmittelentwicklung ist tatsächlich «big business» geworden. Aber heute wird auch nicht mehr mit der Schiefertafel und einem einzigen Lehrbuch unterrichtet. Wir brauchen neue innovative und vor allem interaktive Lernmöglichkeiten. Das ist aufwendig und teuer. Die Auswahl treffen aber noch immer die kantonalen Lehrmittelkommissionen, die vor allem mit Lehrpersonen besetzt sind. Zur Methodenfreiheit kann ich mich nur wiederholen: Der Lehrplan ist bloss die Richtschnur. Die Lehrpersonen müssen entscheiden, was für ihre Klasse am besten ist. Sie sind völlig frei in der Unterrichtsgestaltung. Pichard: Das tönt gut, ist aber nicht so. Im Kanton Thurgau gibt es an der Schule bereits einen Kompetenzmanager. Auch durch die Einführung von Schulleitern ist es hierarchischer geworden. Natürlich muss ich mich als Lehrer heute schon an Regeln und Lehrpläne halten, das ist auch richtig so. Aber ich will mich nicht methodisch einschränken lassen, weil es ein neues Lehrmittel von mir verlangt.
Und nun hoffen Sie auf die Bevölkerung. Ist es sinnvoll, ein so komplexes Werk wie den Lehrplan 21 dem Volk vorzulegen?
Pichard: Wenn ich mir die Reformruinen der letzten Jahrzehnte anschaue, bin ich mir nicht so sicher, ob die vermeintlichen Experten wirklich besser entscheiden. Es geht bei einer solchen Abstimmung ja nicht darum, ob Pythagoras in der siebten oder doch erst in der achten Klasse behandelt werden soll, sondern um Grundsätzliches: Wollen wir Standardisierung, Vereinheitlichung und flächendeckende Kompetenzorientierung? Das muss an der Urne entschieden werden, sonst haben Politiker und Funktionäre einmal mehr im Alleingang eine Reform eingeführt – wie bei «Bologna» an den Hochschulen.
Amsler: Es gab eine breite Vernehmlassungsphase, auch wenn Sie das unentwegt bestreiten! Doch zu den Initiativen: «Lehrpläne vors Volk», das tönt natürlich attraktiv. Aber wir müssen aufpassen, dass wir unser politisches System nicht ad absurdum führen. Nachdem es bereits unzählige Lehrpläne gegeben hat, die allesamt nach altbewährtem Muster eingeführt worden sind, sollen nun plötzlich kantonale Parlamente und die Bevölkerung darüber abschliessend entscheiden. Hier braucht es ein Grundvertrauen gegenüber den Pädagogen und Fachdidaktikern, die ein bildungspolitisch so wichtiges Projekt ausgearbeitet und für gut befunden haben. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Bevölkerung trotz dem populistischen Titel im Sinne der Sache entscheiden wird. Die Schule darf nicht zum Spielball der Politik werden. Pichard: Das Ziel dieses Lehrplans ist die Harmonisierung. Auf diesem Weg sind wir sehr weit. Schon jetzt sind 80 Prozent der Lehrpläne identisch. Wenn ein Kanton beim Lehrplan 21 nicht mitmachen will, ändert sich nichts, zumindest nicht an den Schulen. Es würde einfach ein bisschen weniger massiv mit Kompetenzen gearbeitet. Verlierer wäre einzig die Bildungsindustrie mit ihrer Vermessung von Leistungen und der Produktion neuer Lehrmittel.
Ist die Phobie vor Kompetenzen und Tests nicht übertrieben? An einem Podiumsgespräch meinte eine Lehrerin kürzlich: «Wir machen, was wir müssen, aber wir machen es so, wie wir es wollen.»
Amsler: Das kann ich nur unterschreiben. Unsere Lehrpersonen werden es schon richten! Die Schule ist träge, und zwar in einem positiven Sinn. Man muss nicht jede flüchtige Zeiterscheinung mitmachen und gleich in den Unterricht einbauen. Die gesellschaftliche Erwartung ist enorm, daher ist es wichtig, dass im Schulbereich sauber evaluiert wird, was sinnvoll ist. Das haben wir mit dem Lehrplan 21 getan. Pichard: In der ersten Fassung des Lehrplans wimmelte es noch von zeitgeistig-ideologisch gefärbten Kompetenzen, die glücklicherweise wieder mehrheitlich entfernt worden sind. Aber wenn zum Beispiel überfachliche Kompetenzen wie der Umgang mit Konsum mit einer Skala von 1 bis 10 gemessen und beurteilt werden müssen, dann nähern wir uns einem totalitären Anspruch an Bildung. Amsler: Kinder haben es verdient, dass man sie nach ihren ganz unterschiedlichen Kompetenzen fördert. Dass man auch Arbeitshaltung, soziale und kommunikative Fähigkeiten beurteilt, mögen nun einige kritisieren. Ich bin aber der Überzeugung, dass die Lehrpersonen das auf eine sinnvolle Weise handhaben. Es geht dabei ja nicht nur um die Notengebung. Pichard: Die Frage ist doch: Wo hört die Förderung auf, und wo beginnt die psychometrische Vermessung? Amsler: Die Arbeit im Klassenzimmer ist anspruchsvoll. Die Unterschiede zwischen den Kindern sind je nach Gemeinde massiv. Und die Gesellschaft erwartet immer mehr von der Schule – gerade in Bezug auf Erziehung und Integration. Dafür können Sie aber ganz sicher nicht den Lehrplan 21 verantwortlich machen.
Alain Pichard
Der 61-jährige Alain Pichard ist Sekundar- und Reallehrer in Orpund im Kanton Bern und einer der prominentesten Kritiker von bildungspolitischen Reformprojekten wie dem Lehrplan 21, dem Harmos-Konkordat und «Bologna». Er war zunächst bei der Gewerkschaft VPOD und bei den Grünen politisch aktiv, heute sitzt er für die Grünliberalen im Stadtparlament von Biel.
«Es geht nur um die Fähigkeit zur Anwendung. Das ist aber eine Doktrin aus der Wirtschaft.» Alain Piccard
Christian Amsler
Regierungsrat Christian Amsler ist Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Schaffhausen und Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK). Der 53-jährige Freisinnige ist mit einer Lehrerin verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern und war vorher Prorektor der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen.
«Kinder haben es verdient, dass man sie nach ihren ganz unterschiedlichen Kompetenzen fördert.» Christian Amsler